Direkt zum Inhalt
Coming-Out in späten Jahren
Rubrik

Coming-Out in späten Jahren Männer 30+ und ihr Schritt in die Öffentlichkeit

ms - 04.04.2025 - 15:00 Uhr

Das Coming-Out ist schwierig und nach wie vor eine Hürde – da ändert auch die steigende Akzeptanz in der Gesellschaft gegenüber homosexuellen oder queeren Menschen wenig. Trotzdem bleibt der Schritt hin zur eigenen Sexualität ein besonders wichtiger für das restliche Leben. 

Wann outen wir uns?

Laut dem Bundesfamilienministerium outen sich LGBTIQ+-Jugendliche im Durchschnitt mit 16,9 Jahren. Es bleibt dabei ein ambivalenter und komplizierter Prozess: Zwischen dem persönlichen Eingeständnis, dem sogenannten inneren Coming-Out, und dem äußeren Coming-Out liegen bei schwulen und bisexuellen Jungs dabei zumeist 2,9 Jahre, bei lesbischen Mädchen hingegen nur 1,7 Jahre. Queere Jugendliche brauchen meist 1,4 Jahre bis zum Outing. Doch wie gehen im Speziellen Schwule damit um, wenn diese Zeitspanne deutlich größer ist? Was bedeutet ein Coming-Out in einem Alter von 30, 40 oder vielleicht erst 50 Jahren? SCHWULISSIMO fragte nach bei Diplom-Psychologe Christopher Knoll von der psychosozialen Beratungsstelle für schwul-queere Männer, dem Sub in München. 

Das Coming-Out verbindet man mit Teenager-Jahren, dabei gibt es nicht gerade wenige Männer, die erst im Erwachsenenalter diesen Schritt wagen. Bundesweit gibt es für jene Männer bis heute kaum Angebote, im Sub startet nun eine Coming-Out-Gruppe für Männer 30+. Warum ist ein solche Möglichkeit so wichtig?

Viele Coming-Out-Angebote richten sich an Jugendliche und junge Erwachsene. Doch für Männer, die erst später im Leben ihr Coming-Out erleben, ist die Situation oft eine ganz andere: Sie haben häufig bereits ein gefestigtes Leben, vielleicht eine Ehe, Kinder oder eine langjährige heteronormative Karriere hinter sich – oder sie waren sich schon über ihre Homosexualität klar, haben nur keinen Weg für sich gefunden, das in ihren Lebensentwurf zu integrieren. Der Schritt, sich als schwul zu outen, kann existenzielle Fragen aufwerfen – nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihr Umfeld.

Welche Männer kommen da in der Regel zusammen, welcher Altersdurchschnitt ist da? Und gibt es große Ängste vor einem ersten Treffen?

Unsere Teilnehmer sind meist zwischen Anfang 30 und Mitte 50, manche auch älter. Viele haben sich lange Zeit mit ihrer Identität auseinandergesetzt und wagen nun den Schritt in ein offenes Leben. Die Ängste vor dem ersten Treffen sind oft groß: Wie wird man aufgenommen? Bin ich der Einzige, dem es so geht? Was, wenn mich jemand kennt? Doch schon nach kurzer Zeit merken die Männer: Sie sind nicht allein, und das Erleben von Gemeinschaft nimmt viel Druck raus.

Coming-Out-Hilfe gibt es vielerorts in Deutschland, sowohl bei realen Treffpunkten wie auch durch digitale oder telefonische Beratungen. Zumeist werden diese von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen genutzt. Worin siehst Du die Unterschiede zwischen der Beratung und Hilfestellung für schwule Jugendliche gegenüber schwulen erwachsenen Männern?

Junge Menschen im Coming-Out befinden sich meist noch in der Orientierungsphase ihres Lebens. Sie haben oft weniger festgelegte Rollen in Familie, Beruf und Partnerschaft. Ein Mann, der sich mit 40 oder 50 outet, hat hingegen ein Leben geführt, das in vielen Bereichen auf einem heterosexuellen Selbstbild basiert. Seine Identität neu zu definieren, bedeutet daher häufig, bestehende Strukturen infrage zu stellen. Das macht den Prozess nicht zwangsläufig schwieriger, aber anders.

Blicken wir mal generell auf das späte Coming-Out: Warum outen sich einige Männer erst mit 30 oder 40 oder in noch späteren Jahren? Was hat sie davon abzuhalten, diesen Schritt in jungen Jahren zu gehen? Oberflächlich betrachtet leben wir doch inzwischen in einer sehr liberalen Zeit, oder?

Es gibt viele Gründe: familiäre Prägung, religiöse oder kulturelle Werte, gesellschaftliche Normen oder auch einfach die fehlende Möglichkeit, sich in einem akzeptierenden Umfeld mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Manche Männer hatten in ihrer Jugend schlicht keine Worte oder Vorbilder für das, was sie fühlten. Und natürlich gibt es immer noch Regionen und Milieus, in denen ein Coming-Out mit starken Ängsten oder Risiken verbunden ist. Und wie du sagst: Dass wir in liberalen Zeiten leben ist eine oberflächliche Betrachtung, beim genaueren Hinsehen gibt es in vielen Bereichen einen starken Druck zum heteronormativem Lebensentwurf. 

Das Outing ist gerade auch für schwule Jungs ein zentraler und wichtiger Schritt in ihrer Persönlichkeitsbildung, der oftmals mit etwas Abstand auch als Befreiung und Schritt zu mehr Lebensqualität wahrgenommen wird. Was passiert bei Männern, die diesen wichtigen Entwicklungsschritt aus welchen Gründen auch immer nicht getan haben?

Viele erleben eine Form von innerer Zerrissenheit. Sie haben sich ein Leben aufgebaut, das sie vielleicht in vielerlei Hinsicht schätzen – doch tief in sich tragen sie das Gefühl, nicht wirklich sie selbst zu sein. Manche unterdrücken ihre Gefühle mit Arbeit, Perfektionismus oder Süchten. Andere führen Doppelleben, was wiederum großen emotionalen Stress erzeugen kann. Wie auch immer die individuelle Lösung aussieht, es sind oft Gefühle von Scham und Unzulänglichkeit vorhanden und das Gefühl, vor der vermeintlichen Wahl zu stehen, unehrlich zu sein oder abgelehnt zu werden. 

Du wirst es in deiner Arbeit ja auch mit Männern zu tun haben, die schwul sind, aber in heterosexuellen Beziehungen oder gar einer Ehe feststecken, vielleicht sogar noch mit eigenen Kindern. Ich kann mir vorstellen, dass der Schritt eines Outings dann immer und immer schwieriger wird, oder? 

Ein Coming-Out in einer heterosexuellen Ehe ist oft eine besonders herausfordernde Situation. Hier geht es nicht nur um die eigene Identität, sondern auch um die Gefühle von Partnerinnen und Kindern. In der Beratung schauen wir individuell, was der beste Weg sein kann – es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Manche Männer entscheiden sich für ein vollständiges Coming-Out, andere suchen nach individuellen Lösungen und selektiven Offenheiten. Entgegen der landläufigen Vorstellung kann man jedoch auch als schwuler Mann eine in vielen Bereichen erfüllte und tief empfundene Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern haben. Welcher Weg der richtige ist, kann der Einzelne sehr individuell für sich entscheiden – und wir helfen gerne dabei. 

Abgesehen vom Schritt des Coming-Outs selbst, gibt es weitere besondere Probleme, denen sich schwule Männer 30+ stellen müssen, wenn sie erst in späteren Jahren ihr Outing wagen? 

Viele Männer müssen sich nach ihrem „Going public“ in einer völlig neuen sozialen Realität orientieren. Dating, Sexualität, queere Freundschaften – all das kann sich zunächst fremd anfühlen. Manche haben Angst, „zu spät dran“ zu sein oder von der Community nicht akzeptiert zu werden. Auch Fragen nach zukünftigen Beziehungsformen und Lebensmodellen sind oft zentral. 

Wie reagieren Freunde oder Familien, wenn sich ein Mann erst in späteren Jahren als homosexuell outet? 

Das ist sehr unterschiedlich. Während viele Freunde und Familienmitglieder verständnisvoll reagieren, gibt es auch Enttäuschung oder sogar Ablehnung – besonders dann, wenn das Outing als „Lebenslüge“ interpretiert wird. Viele Partnerinnen haben das Gefühl, ein falsches Leben gelebt zu haben und nur als gesellschaftlicher Schutzschild gedient zu haben. Manche Eltern etwa sind traurig, weil sie dachten, bereits „alles“ über ihr Kind zu wissen. Gleichzeitig erleben viele Männer aber auch große Erleichterung und spüren, dass ehrliche Beziehungen letztlich stärkere Beziehungen sind.

Das eine ist das persönliche Umfeld, das andere ist die LGBTIQ+-Community. Welche Reaktionen erleben schwule Männer 30+, wenn sie erst spät Anschluss an die Community finden? 

Hier gibt es ein gemischtes Bild: Viele queere Menschen heißen späte Coming-Outs willkommen, teilen Erfahrungen und unterstützen Neulinge. Manchmal gibt es aber auch Irritationen – etwa, wenn ein 45-Jähriger, der gerade erst die Szene entdeckt, sich in einem Club unsicher fühlt oder auf Dating-Apps als „unerfahren“ wahrgenommen wird. Die queere Community ist bunt – aber sie ist auch nicht frei von Vorurteilen und Erwartungen. Oft fühlen sich Männer mit spätem Coming-Out den anderen in punkto Erfahrung und sozialer Kompetenz unterlegen. Ein Gruppenteilnehmer hat es mal schön formuliert: Er meinte, in der Szene zu sein, fühle sich für ihn so an, als wäre er in einem Schwimmbecken mit lauter Olympiaschwimmern und er selbst hat nur das Seepferdchen. Auch wenn ich sicher bin, dass das Gefühl für ihn so war, ist das natürlich eine gewisse Entwertung der vielfältigen Erfahrungen, die die Männer auf ihrem Weg machen, die ja nicht per se weniger wert sind, nur weil sie weniger schwul waren. 

Wie sollten und können wir bestenfalls reagieren, wenn sich ein Freund von uns in höherem Alter als homosexuell outet? 

 Zuhören, ernst nehmen und den Schritt würdigen. Es ist wichtig, nicht mit Aussagen wie „Na endlich!“ oder „Das hab‘ ich doch immer gewusst“ zu reagieren. Stattdessen sollte man fragen: „Wie geht es dir damit? Wie kann ich dich unterstützen?“ Es geht nicht darum, ob das Coming-Out für das Umfeld überraschend ist – sondern darum, dass es für die Person selbst ein großer Schritt ist.

Ich kann mir vorstellen, dass Männer, die sich erst mit 30 oder 40 Jahren geoutet haben, nicht nur eine besondere Art von Befreiung erleben, sondern auch, wie von dir bereits angesprochen, einen gewissen Nachholbedarf verspüren, gerade im sexuellen Bereich. Was berichten dir hier Männer? 

Viele Männer berichten, dass sie nach ihrem Coming-Out viel Neues ausprobieren möchten – von Dates und Sexualität bis hin zu queeren Freundschaften und Reisen. Das ist völlig normal und verständlich. Manche haben das Gefühl, ihre Jugend nachholen zu müssen. Wir ermutigen sie, sich Zeit zu lassen und herauszufinden, was wirklich zu ihnen passt. Druck oder das Gefühl, „alles sofort erleben zu müssen“, oder die vermeintlich verpassten Chancen so schnell wie möglich nachzuholen, kann hingegen kontraproduktiv sein. Wie gesagt, wir ermuntern die Männer selbstbewusst zu ihrer Biografie zu stehen und sie nicht deswegen abzuwerten, weil ihr Schwulsein nur eine geringe Rolle darin gespielt hat. 

Was würdest Du dir generell im Umgang mit schwulen Männern, die sich erst spät outen, wünschen? Was wird vielleicht selten mitgedacht, ist aber wichtig? 

Mehr Verständnis dafür, dass es viele Wege zum Coming-Out gibt – und dass jeder Weg seine Berechtigung hat. Oft wird implizit erwartet, dass schwule Männer ihr Leben ähnlich leben wie Heterosexuelle – mit klaren Schritten von Jugend über erste Beziehungen bis hin zu Familie oder festen Partnerschaften. Doch das Leben ist komplexer. Spät geoutete Männer haben oft besonders spannende Biografien – und verdienen ebenso ihren Platz in der Community.

Christopher, vielen Dank für das Gespräch.

Mehr unter: subonline.org/comingout-gruppe-30

Erster Termin im Sub München: 15. April / 17 Uhr 

Info und Anmeldung unter 089/856346424 oder unter beratung@subonline.org

Auch Interessant

Ein Leben in der Hölle

LGBTIQ+ und die Taliban

Seit 2021 herrschen die Taliban erneut in Afghanistan. Für LGBTIQ+-Menschen ist das Leben vor Ort immer mehr zur Hölle geworden - ohne jeden Ausweg.
Start der Pride-Saison 2025

In Sachsen-Anhalt geht´s los

Ende April startet endlich die neue Pride-Saison 2025! Los geht´s in Sachsen-Anhalt, allerdings unter besonders schwierigen Voraussetzungen.
Die Community und der Tod

Trauer um prominente Stimmen

AnNa R., Tim Kruger, Doris Fitschen: Warum trifft uns der Tod fast immer unerwartet? Wie können, wie sollten wir damit vielleicht umgehen?
Ein Herz und eine Seele

Warum uns Hunde so gut tun

Ein Herz und eine Seele: Lebensgefährte, Seelentröster, Freund - warum tun uns Hunde so gut?
Wenn das Jugendamt kommt

Schicksale queerer Jugendlicher

Wenn das Jugendamt kommt: Was tun, wenn die Familie zur Hölle wird? Ein schwuler junger Mann und sein Weg hinaus.
Frühjahrsputz 2.0

Mit Glitzer und Drama

Der Frühjahrsputz steht an! Bist du dabei oder geht´s bei dir nur mit Glitter und Drama? Wir sagen, was dein Putzstil über dich verrät!
Unerzogene Hunde

Mein Vierbeiner gehorcht nicht!

Was tun, wenn unser behaarter Liebling unerzogen ist? Ja, wir reden hier von echten Hunden und nicht von schwulen Bären!