Wenn das Jugendamt kommt Was tun, wenn die Familie zur Hölle wird? Ein schwuler junger Mann und sein Weg hinaus!
Die Jugendämter in Deutschland haben im Jahr 2023 rund 74.600 Kinder und Jugendliche aufgenommen, darunter statistisch umgerechnet auch rund 16.000 LGBTIQ+-Jugendliche. Binnen eines Jahres stieg die Zahl der Betroffenen dabei um rund 12 Prozent an, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.
Zahlen für 2024 gibt es aktuell noch nicht, Experten gehen aber von einer weiteren Zunahme aus, gerade auch mit Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre: Zum dritten Mal in Folge war die Zahl der sogenannten Inobhutnahmen angestiegen. Ein Drittel aller Inobhutnahmen (36%) erfolgte aufgrund von „dringenden Kindeswohlgefährdungen“ und etwa ein Zehntel (11%) der Fälle waren Selbstmeldungen, also Fälle, in denen Kinder oder Jugendliche selbst aktiv beim Jugendamt Unterstützung suchten – Gründe dafür können nebst Gewalterfahrungen auch die Ablehnung der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität sein.
Im Schnitt dauerte eine „Maßnahme“ 50 Tage, nach Beendigung der Inobhutnahme kehrte etwa ein Viertel (23%) der betroffenen Jugendlichen an den bisherigen Aufenthaltsort zurück. Knapp die Hälfte (47%) von ihnen wurde dauerhaft an einem neuen Ort untergebracht, zumeist in einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung. Soweit die Fakten. Es sind nüchterne Zahlen, die uns mitunter erschüttern, aber auch weit weg scheinen – solange, bis man mit einem jener Menschen spricht, die eine Inobhutnahme durchlebt haben. Einer davon ist Markus, ursprünglich aus Oberbayern. Der heute 18-Jährige lebt inzwischen in einer speziellen Einrichtung in Berlin und macht eine Ausbildung im Handwerksbereich.
Markus, du warst 16 Jahre alt, als du eine Inobhutnahme selbst erlebt hast – und du hast dich selbst beim Jugendamt gemeldet. Wie kam es dazu?
Bei mir war irgendwann einfach der Punkt erreicht, wo ich nicht mehr konnte. Ich habe zuletzt immer wieder mit Suizid-Gedanken gespielt, bis mir meine beste Freundin mit eindringlichen Worten klargemacht hat, dass das nicht normal ist. Genauso wenig wie meine Familie und meine Familienverhältnisse normal waren – oder zumindest waren sie nicht harmonisch oder liebevoll, wie das vielleicht andere erleben dürfen. Man steckt da aber lange Zeit so tief drinnen, dass man gar nicht wirklich realisiert, was wirklich abgeht. Wie sollte man auch? Ich kannte ja nur meine Familie und ich denke, unbewusst nimmt man dann an, so ist Familie eben. Ich habe inzwischen in Berlin auch eine Therapeutin bekommen, die mir hilft, das Erlebte aufzuarbeiten. Ich merke aber auch in mir, dass das nie ganz verschwinden wird. Man sagt doch immer, dass einen die Kindheit und die Jugend in spezieller Weise prägt und ich glaube, vieles davon bleibt ein Leben lang erhalten. Narben innen wie außen können verheilen, ja, aber sie gehen einfach nie ganz weg. Und zwischendurch jucken sie oder tun weh.
Ich stelle mir das schrecklich vor, wenn man als junger Mensch an den Punkt kommt, an dem man sich gegen die eigene Familie stellen muss. Was ist dir dabei durch den Kopf gegangen?
Ganz ehrlich, sehr lange Zeit war ich der festen Überzeugung, ich bin schuld. Ich hätte dir nicht sagen können, warum, aber irgendwie war ich es. Ich wusste schon früh, dass ich schwul bin, seltsamerweise war das für mich persönlich kein großes Problem, auch wenn ich wusste, dass meiner Familie christliche Werte wichtig waren. Ich habe mich damals nicht offiziell bei meinen Eltern geoutet, aber ich kann mir vorstellen, dass sie irgendwas geahnt haben. Ich habe zwei Jahre lang sehr darauf geachtet, so gekleidet zu sein wie meine Kumpels in der Schule, ich habe zu Hause beiläufig von coolen Mädchen erzählt, die es in meiner Klasse geben würde und lauter solche Sachen. Ich habe gehofft, sie sprechen mich nicht darauf an.

Du hast dich bis heute nicht bei ihnen geoutet?
Nein, dazu ist es gar nicht mehr gekommen, als sich die Dinge immer mehr überschlagen haben. Heute habe ich kein Bedürfnis mehr, ihnen das mitzuteilen. Es ist ein sehr persönlicher Teil meines Lebens und ich denke irgendwie, das geht sie einfach nichts an, ich will sie gar nicht mehr so nah an mich ranlassen. Aber diese zwei Jahre vor meiner Selbstmeldung, die waren wirklich heftig. Ich habe meine Eltern geliebt, insbesondere meine Mutter, und ich dachte mir, wenn ich fortgehe, lasse ich sie im Stich. Dann wird alles noch schlimmer und ich bin dann wirklich schuld daran, also muss ich bleiben, sozusagen als Pufferzone zwischen meinem Vater und ihr.
Dein Vater war ein sehr gewalttätiger Mensch?
Ja, in mehrfacher Hinsicht. Er arbeitet in höherer Position in einer Bank, hat einige Mitarbeiter unter sich und ist es daher gewohnt, dass sich alle nach ihm richten müssen. Ich bin der zweitgeborene Sohn, mein Bruder ist am Plötzlichen Kindstod gestorben, zehn Jahre, bevor ich auf die Welt gekommen bin. Einerseits, glaube ich, haben sich meine Eltern sehr darüber gefreut, dass ich als Nachzügler gekommen bin, andererseits musste ich jetzt der Vorbildsohn werden, das perfekte Ideal, weil es das erste Mal nicht geklappt hatte. Ich habe das mitbekommen, seit ich denken kann. Schon im Kindergarten. Ich musste immer besser sein als die anderen, immerhin war ich ja der Sohn eines Bankmanagers. Und das im ländlichen Bayern. Keine Note, nichts war gut genug. Es hätte immer noch etwas besser sein können. Warum ist die 1 keine 1-plus bei der Schulaufgabe? Mein Vater hat mich auch dazu gezwungen, Klavierunterricht zu nehmen. Ich musste jeden Tag zwei Stunden pro Tag üben, auch wenn ich das niemals wollte. Ich bin wirklich nicht musikalisch, ich bin eher handwerklich begabt. Die Arbeit mit Holz und Naturmaterialien liegt mir total, das merke ich bereits jetzt in meiner Ausbildung. Mein Vater wollte aber ein Genie, das nebenbei noch ein Klaviervirtuose ist. Ich konnte nur scheitern. Ich habe von meinen Eltern und insbesondere von meinem Vater nie gehört, dass er mich liebt oder dass ich gut bin, so wie ich bin. Es gab keine körperliche Nähe zwischen uns, kein Umarmen, keine liebevolle Geste. Wir hatten keine gemeinsame Vater-Sohn-Zeit, nichts. Ich kann mich auch rückblickend an kein Ereignis erinnern, das ich als irgendwie besonderen Moment zwischen ihm und mir in Erinnerung behalten habe. Als ich noch Kind war und meine Freunde zum Spielen vorbeigekommen sind, kam er immer nur kurz ins Zimmer, musterte mich streng und ging wieder. Das zog sich durch alle Lebensbereiche. Ich konnte fast 40 Grad Fieber haben und mein Vater erklärte meiner Mutter trotzdem, ich simuliere, weil ich zu faul für die Schule bin. Natürlich musste ich auch aufs Gymnasium, auch wenn mir das nie gelegen hat. Aber ich wurde nie gefragt.
Was hat das mit deinem Selbstwertgefühl gemacht?
Ganz einfach, ich habe keines, bis heute nicht. Ich kann mir logisch heute erklären, was ich vielleicht ganz gut kann, ich bekomme das auch von Freunden, meinem festen Freund und sogar vom Chef in der Ausbildung widergespiegelt, doch das alles ändert nichts. Tief in mir drinnen bin ich unbewusst davon überzeugt, dass ich nichts wert bin. Ich zeige das nur selten nach außen, das wissen nur wenige. Du würdest es mir nicht ansehen, ich kann diesbezüglich gut schauspielern. Meine Homosexualität verstärkte das natürlich noch, immerhin wird dir gerne auch online eingeredet, wie pervers und abartig Schwule und Lesben und Queere sind. Gleiches hab ich immer wieder sonntags in der Kirche gehört.

Wann war der Punkt erreicht, als für dich klar war, du musst jetzt gehen?
Das eine war wie gesagt meine beste Freundin, das andere waren einfach diverse Entwicklungen. Mein Vater wurde immer mehr zum schweren Alkoholiker, trank jeden Abend nach der Arbeit zehn bis fünfzehn Flaschen Bier oder gerne Rum-Cola. Am Wochenende war es noch schlimmer, da musste er ja nicht am nächsten Tag wieder fit sein. Je mehr Alkohol, desto bösartiger und launenhafter wurde er. Einmal hat er die Kontrolle komplett verloren und meine Mutter geschlagen, während der Tatort lief. Ich versuchte ihn davon abzuhalten, aber er schleuderte mich nur in die Ecke. Tags darauf erklärte er meiner Mutter, der „Ausrutscher“ passiere nicht noch einmal. Sie glaubte ihm. Das tut sie wohl noch heute. Ich habe meine Mum angefleht, dass wir gemeinsam weggehen, sie hat das bis zuletzt verneint und hatte wohl auch Angst, dann finanziell auf der Straße zu stehen. Ich würde allerdings sagen, viel schlimmer als die tatsächlichen Schläge war der Psychoterror. Er erniedrigte mich und meine Mutter im Alkoholrausch immer krasser, dann schwenkte er von einer Sekunde auf die andere um und drohte damit, sich umzubringen. Einmal hat er sich tatsächlich im Keller aufgehängt, aber das Seil riss. Danach erklärte er uns jedes zweite Wochenende, er fahre jetzt weg und erhänge sich. Meine Mutter war in großer Sorge und so sind wir mehrfach im Monat losgezogen, mitten in der Nacht, und haben ihn mit Taschenlampen gesucht. Wir wohnten in der Nähe eines Parks, den sind wir immer wieder nach Mitternacht abgegangen. Wir suchten überall… meistens verschanzte er sich wohl in irgendwelchen Bars und kam dann am frühen Morgen nach Hause, als sei nichts passiert. Das wurde die letzten Monate Alltag in meinem Leben – und ich dachte eben lange Zeit, dass das ganz normal ist in einer Familie.
Du hast dann eine Selbstanzeige erstattet und das Jugendamt hat dich dort rausgenommen. Da warst du noch minderjährig. Wie ging es dann weiter?
Ich kam erst in eine Einrichtung für Jugendliche, später in eine zweite. Die Suche nach einer Pflegefamilie lohnte sich für mich nicht mehr, weil ich bald darauf volljährig geworden bin. Die wirklich sehr freundliche Mitarbeiterin des Jugendamtes hat mir dann den Ausbildungsplatz und die Wohnunterkunft in Berlin besorgt, ich hatte da mehrfach Glück. Ich bin sehr dankbar dafür – und dafür, dass ich es überhaupt überlebt habe. Ich glaube, hätte mein Vater zu einhundert Prozent gewusst, dass ich schwul bin, wäre ich heute gar nicht mehr am Leben. Entweder hätte er mich totgeschlagen oder mich in den Suizid getrieben.
Markus, vielen Dank für deine ehrlichen Worte und alles Gute dir für die Zukunft.
Wenn Du Probleme zu Hause hast oder gar über Suizid nachdenkst, versuche mit anderen Menschen darüber zu sprechen oder nutze professionelle Ansprechpartner. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar unter Telefon 0800/1110111 und 0800/1110222. Online: www.telefonseelsorge.de. Das Kinder- und Jugendtelefon der Nummer gegen Kummer ist ebenso anonym und kostenlos vom Handy und Festnetz erreichbar unter Telefon 116 111. Mit Beratung steht dir auch der Coming Out Day Verein via Messenger oder E-Mail unter www.coming-out-day.de zur Seite.