Die Community und der Tod AnNa R., Tim Kruger, Doris Fitschen: Warum trifft es uns fast immer unerwartet?
Die Community musste im März von mehreren Lieblingen Abschied nehmen, darunter die Ex-Fußball-Nationalspielerin Doris Fitschen, die Adult-Darsteller Tim Kruger und Roman Mercury sowie die Rosenstolz-Sängerin AnNa R. – sie alle sind viel zu früh gegangen. Viel zu unvermittelt. Vielleicht liegt genau hier das Kernproblem. Unvermittelt. Unerwartet. Wenn wir ehrlich sind, erwarten wir in den seltensten Fällen den Tod, obwohl er die einzige Gewissheit ist, deren wir uns in unser aller Leben sicher sein können.
Tabu Tod in der Community
Noch immer ist er ein Tabu – in der Gesellschaft genauso wie in der Community. Unsere Wahrnehmung, wann der Tod viel zu früh gekommen ist und wann er zumindest angemessen in Anbetracht des Alters der Betroffenen war, variiert dabei mit unserem eigenen Alter. Die Lebenserwartung in Deutschland liegt bei Männern derzeit bei 78,2 Jahren, bei Frauen bei 83 Jahren. Bei der ersten Aufzeichnung 1871 bis 1881 lag im damaligen Reichsgebiet die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei 35,6 Jahren und für Frauen bei 38,5 Jahren. Ein ordentlicher Sprung innerhalb von rund 150 Jahren, oder? Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland dabei nicht einmal eine Spitzenstellung ein, mehr als zwanzig Länder weisen höhere Werte auf, darunter auch Österreich und die Schweiz, so das Statistische Bundesamt.
Carpe diem – mehr als ein Kalenderspruch?
Betreiben wir Wortklauberei? Mitnichten, denn die Frage, wann wir den Tod erwarten und wann nicht, auch und gerade bei geliebten prominenten Persönlichkeiten, verrät uns sehr viel über uns selbst – und über die Frage, wie wir unser Leben gestalten. Wir kennen sie alle, die altklugen Kalendersprüche und Aufforderungen, sein Leben jetzt und heute zu leben. „Carpe diem“ flüsterte schon Robin Williams im Kultfilm „Der Club der toten Dichter“ seinen jungen Schülern zu. Nutze den Tag. Bald seid ihr Futter für die Würmer, Jungs. Einige in unserer Community scheinen indes nur die Extreme zu kennen, einerseits die komplette Ausblendung des Todes, der da kommt, andererseits die besonders exzessive Auslebung all unserer Lüste und Fantasien, komme, was wolle. Gelingt uns vielleicht der Mittelweg? Keine totale Verneinung aber auch kein Leben im puren Rausch, der uns gerne einmal gerade bei Hinzunahme illegaler Substanzen dem Tod sogar entgegenrennen lässt.

Zwischen Alltag und Wahnsinn
Der schwule Schauspieler Ian McKellen (85) forderte zuletzt: „Sie müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass Menschen sterben. Für Sie ist es wahrscheinlich noch eine Überraschung oder ein Schock oder ein größeres Ereignis, wenn jemand stirbt. Was mich angeht: Nächste Woche bin ich auf drei Beerdigungen. Freuen Sie sich auf morgen. Genießen Sie den heutigen Tag. Darauf kommt es an.“ Wenn da nicht der Alltag und der ganz normale Wahnsinn dazwischenkommen würden. Dazu kommt eine vielerorts besondere, kognitive Dissonanz, die mitunter seltsame Züge annimmt: Vor ziemlich genau fünf Jahren stoppte der Covid-Virus unser aller Leben, Stillstand von einem Moment auf den anderen. Alles, was uns bis dahin selbstverständlich erschien – Rausgehen, Freunde treffen, Sex haben, Party machen – war uns genommen.
Angst vor dem Date, Angst vor dem Leben?
Abseits der kleinen Gruppe jener Männer, die nur nach dem Motto „Ich sterbe sowieso früh, was interessiert mich das Morgen“ leben, bedeutete das für die meisten von uns eine besondere Vorsicht beim Daten. Plötzlich ging es nicht mehr nur um sexuelle Vorlieben, sondern um ganz unerotische Fragen wie nach dem Impfstatus. Bei jedem Treffen blieb trotzdem das Gefühl von Unsicherheit. Ältere Schwule verglichen jene Zeit mit dem Aufkommen der Aids-Pandemie in den 1980er Jahren. Das Wissen um das Virus war rar gesät, die Angst, dass der Tod mit im Bett liegt, übergroß. Unterhalten wir uns heute mit jener Generation, hat diese Angst, die deutlich länger andauerte als unsere Corona-Erfahrungen, die meisten von ihnen bis heute geprägt. Es hat sie empfänglicher gemacht für die Wertigkeit kleiner Dinge. Für die Erkenntnis, dass ein Kuss oder eine Umarmung bereits etwas Besonderes ist. In allen Zeiten, nicht nur im Krisenmodus. Auch wenn Covid und HIV sich aus vielen Gründen nicht vergleichen lassen, haben viele von uns damals erstmalig diese Erlebnisse wirklich nachvollziehen können. Heute leben wir wieder frei und vieles scheint vergessen.
Immer zu früh – und immer eine Erinnerung
So traurig die viel zu frühen Todesfälle in unserer Community sind, vielleicht können sie uns eines in Erinnerung rufen: Unsere Leben sind kostbar. An jedem einzelnen Tag. In jedem Moment. Jeder Atemzug ein neuer Augenblick, eine neue Chance. Wir leben unseren Alltag, aber vielleicht gestatten wir uns Momente der Besinnung, eine ruhige Minute nur, in der wir innehalten und uns verstehen lassen, dass wir gerade jetzt leben und wie großartig das jenseits aller Probleme ist. Diese kleine Erinnerung ab und an zur rechten Zeit kann uns helfen, schöne Dinge und Erlebnisse zu erkennen und sie als das zu schätzen, was sie sind: besonders. Nichts ist sicher, nichts garantiert; alles Gute, und sei es nur ein warmer Sonnenstrahl jetzt im Frühling, ist ein Geschenk. Das ist es, was uns unsere Toten sagen wollen.