Ist das Coming-Out out? Coming-Out? Lieber ein “Inviting-In” fordern junge queere Aktivisten
Im Schnitt brauchen homosexuelle Jugendliche in Deutschland rund fünf Jahre, bevor sie ein Coming-Out wagen. Der neuste Trend innerhalb der jungen Gen-Z indes geht nun offenbar in eine ganz andere Richtung: Das Coming-Out ist out.
Homosexuelles Leben in Zahlen
Das liegt leider allerdings nicht daran, dass der Prozess selbst unnötig geworden wäre: Jeder Dritte (38%) erlebt bis heute Diskriminierung im Alltag, jeder vierte Homosexuelle (25%) verschweigt im Job seine Gleichgeschlechtlichkeit, so die EU-Grundrechteagentur. Knapp die Hälfte (40%) hält in der Öffentlichkeit nicht mehr Händchen, aus Angst vor gewalttätigen Angriffen. 57 Prozent der Homosexuellen wurden Opfer von verbalen Angriffen. 70 Prozent der LGBTI*-Schüler in Deutschland erleben Mobbing, Spott oder Drohungen.
Eine Frage der Macht?
Trotzdem nimmt eine Bewegung innerhalb der jungen queeren Szene derzeit an Fahrt auf, die ein generelles Umdenken einfordert – weg vom vermeintlichen Zwang eines Coming-Outs. Die Kernthese: Warum soll man seine sexuelle Orientierung oder seine Geschlechtsidentität mit anderen Menschen so teilen müssen, dass man ihnen die Macht einräumt, darüber ein Urteil zu fällen? Outen sich junge Menschen heute bei Eltern oder Freunden, bitten sie direkt oder indirekt um Akzeptanz und überlassen die Handlungsgewalt anderen Menschen.
Eine neue Kunst des "Einladens"
Befürworter einer neuen Herangehensweise wollen dabei keineswegs Mitmenschen täuschen oder sich aus Scham verstecken – es gehe nicht darum, weiter „im Schrank zu bleiben“, sprich, ungeoutet durch die Welt zu laufen. Vielmehr wollen sie eine „Kunst des Einladens“ praktizieren. Im 21. Jahrhundert sei das „ganze Konzept des Coming-Outs albern und unnötig.“ Die Idee stammt von der australischen Wissenschaftlerin und Therapeutin Sekneh Hammoud-Beckett, sie wünscht sich anstatt eines Coming-Outs ein „Inviting-In“, also eine Einladung an andere, die Sexualität oder Geschlechtsidentität des Gegenübers einfach anzuerkennen.
„Ich habe mich meiner Tante gegenüber als schwul geoutet, als ich 19 war, und sie schien von dem, was ich ihr erzählte, nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Sie erzählte mir, dass es die ganze Familie bereits wusste. Ich kam mir so dumm vor. Ich beschloss, mir weitere Demütigungen zu ersparen. Ich werde mich dem Rest von ihnen 'outen', wenn ich eines Tages zu Weihnachten einen Freund nach Hause mitbringe“, berichtet so der junge schwule Mark.
Privilegierte Sichtweisen
Die Entscheidung, ein klassisches Coming-Out abzulehnen, weil man in seinem Umfeld und in seiner Familie eine einhundertprozentige Akzeptanz der eigenen „Andersartigkeit“ voraussetzt, ist allerdings eine äußert privilegierte Ausgangslage. Jungen Schwulen und Lesben sowie queeren Personen, die in einem homophoben Elternhaus oder einer hasserfüllten Schule heranwachsen, nützt es herzlich wenig, wenn sie von einem Tag auf den anderen „einladend“ out leben.
Jene Befürworter des „Inviting-Ins“ müssen sich auch keine Gedanken darüber machen, von den Eltern vor die Tür gesetzt zu werden und auf der Straße zu landen. Sie leben in ihrer Luftblase, die auch weltweit betrachtet noch ein seltenes Refugium darstellt. Wer das bestreitet, kann gerne einmal versuchen, in einem Land im Nahen Osten seine Mitmenschen selbstbewusst zum Anerkennen der eigenen Homosexualität „einzuladen“. Und auch in den USA zeigte eine Studie der Lesley University jüngst auf, dass 68 Prozent der queeren Teenager nach dem Outing von den Eltern abgelehnt werden.
Zudem kommt es ein wenig verächtlich daher, wenn fünfzig Jahre schwul-lesbische Bewegung für Gleichberechtigung und Akzeptanz, beginnend mit dem eigenen Coming-Out, als „veralteter Übergangsritus“ bezeichnet werden. Einer der Heroen der US-Gay-Bewegung, der erste schwule Politiker Harvey Milk, rief einst dazu auf, dass sich alle outen sollten, nur so könne durch eine erhöhte Sichtbarkeit auch Akzeptanz erreicht werden.
"Veraltetes Konzept" namens Coming-Out
Kate Steinle, Chief Clinical Officer beim amerikanischen LGBTI*-Gesundheitsdienst FOLX, sagte dagegen unlängst: „Ein Coming-Out kann in vielerlei Hinsicht definitiv ein veraltetes Konzept sein, da die Vorstellung vom ´Schrank´ oder einer angenommenen heteronormativen Identität nicht mehr so verbreitet ist wie noch vor Jahrzehnten. Der Prozentsatz der Menschen, die sich als LGBTI* identifizieren, ist über die Generationen hinweg stetig gestiegen.“
Und Jess Clodfelter, US-Expertin für psychische Gesundheit, ergänzte: „Die Idee des Coming-Out ist eine, die sich performativ und fremdbestimmt anfühlt, während die Idee des Inviting-In sehr personenzentriert ist. Die Idee des Einladens trägt dazu bei, die Machtdynamik zu verändern, sodass die Person, die über ihre Identität sprechen möchte, wieder die Kontrolle hat. Ein Coming-Out fühlt sich für andere Menschen wie ein Geständnis an, als hätten wir etwas falsch gemacht. Wenn der Einzelne die Macht zurückerhält, kann er Menschen in seine Welt einladen und entscheiden, wann er sie in diesen verletzlicheren Raum einlädt.“
Vielleicht geht es auch nur um einen neuen Blickwinkel auf die Sache selbst, denn früher wie damals ist das Coming-Out eines der wesentlichen Entwicklungsschritte von Homosexuellen, der sie freier, zumeist glücklicher und selbstbewusster leben lässt. Die Umdeutung des Coming-Outs mag für manche queere Menschen vielleicht sinnvoll klingen, weil sie das Gefühl bekommen, selbstbestimmter über ihr eignes Leben entscheiden zu können – damit sie genau das aber langfristig wirklich können, bedarf es am Ende doch wieder eines, wie auch immer gearteten, Coming-Outs.