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Coming Out - jetzt oder nie?

Coming Out - jetzt oder nie? Angriffe, Hass und Diskriminierung bleiben trauriger Alltag

ms - 11.10.2024 - 10:00 Uhr
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Auf diese Frage hinuntergebrochen, würden noch immer viel zu viele junge Homosexuelle sich kurzerhand eher fürs Verschweigen entscheiden als für einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sexualität. Der heutige Coming-Out-Tag will dabei einmal mehr den Finger in die Wunde legen und aufzeigen, dass noch viel geschehen muss, bis junge Menschen frei von Angst ihr Outing angehen können. 

Diskriminierung und Hass 

Ursprünglich sollte der Aktionstag an den Kampf für Schwulen- und Lesbenrechte in den USA gedenken, seit 1988 wird er alljährlich begangen. Heute geht es aber zudem auch immer wieder darum, Mut zu machen und gegen Stigmatisierung und Hass einzustehen. Angesichts der aktuellen Zahlen scheint die Sache mit dem Mut allerdings bis heute zumindest teilweise nicht zu funktionieren, wie die jüngste LGBTI*-Studie der EU-Grundrechteagentur von diesem Jahr eindrucksvoll belegte

Zwar trauen sich immer mehr Menschen, zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen, gleichzeitig sind aber trotzdem noch viele Homosexuelle bis heute in massiver Weise Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. 60 Prozent der LGBTI*-Menschen in Deutschland leben out, mehr als jeder Dritte (38%) wird immer noch im Alltag diskriminiert. 

Im Job verschweigt jeder Vierte (25%) seine Homosexualität vor den meisten oder sogar allen Kollegen. Die Vorsicht ist leider berechtigt: Rund 40 Prozent der Schwulen und Lesben sind im Berufsleben Tuscheln, Lügen und übergriffen Fragen zur Sexualität ausgesetzt oder werden direkt lächerlich gemacht. Jeder Vierte wird beschimpft, jeder Fünfte erlebt Mobbing und Psychoterror. 

Die Mehrheit erlebte Angriffe

In der Öffentlichkeit stellt das Coming-Out noch einmal einen besonders problematischen Sachverhalt dar: 40 Prozent der Schwulen in Deutschland vermeiden es, Händchen mit dem Partner zu halten – die Angst vor Angriffen ist zu groß. 

Auch diese Bedenken sind berechtigt: 57 Prozent der Homosexuellen erlebte im letzten Jahr hassmotivierte verbale Angriffe und Belästigungen, mehr als im EU-Durchschnitt. Die Hasskriminalität stieg zuletzt binnen eines Jahres um 65 Prozent an, 90 Prozent davon werden nie zur Anzeige gebracht. Realistisch hochgerechnet kann von mehr als 23.500 Übergriffen binnen eines Jahres ausgegangen werden, das sind mehr als 64 Vorfälle jeden Tag.    

Dramatische Lage an den Schulen

Warum noch einmal sollen sich junge Menschen also outen? Dabei ist die Lage vor Ort an den Schulen sogar noch dramatischer: 70 Prozent der LGBTI*-Schüler in Deutschland erleben Mobbing, Spott, Hänseleien, Beleidigungen oder Drohungen – erneut liegt die Bundesrepublik damit über dem EU-weiten Wert. Noch bedenklicher: Vor fünf Jahren lag dieser Wert noch bei „nur“ 43 Prozent. Jeder dritte LGBTI*-Schüler hat bereits ernsthaft über Suizid nachgedacht. 

Ebenso jeder dritte junge Homosexuelle (28%) wird in Deutschland noch immer gezwungen, sich einer Konversionstherapie zur „Heilung der Homosexualität“ zu unterziehen. Schlussendlich versteckt mehr als die Hälfte der jungen Menschen (52%) in Deutschland ihre Zugehörigkeit zur LGBTI*-Community. 

Outing – ein einsamer Prozess über Jahre

Die, die sich trauen, fühlen sich zuvor oft über lange Zeit einsam und allen, im Durchschnitt dauert der Prozess fünf Jahre, wie der Coming-Out-Day-Verein bestätigt. „Als Resultat von anhaltenden Diskriminierungserfahrungen und ohne die Möglichkeit von Unterstützung haben junge LSBTIQ* eine vier- bis siebenmal höhere Suizidrate, leiden öfter an Depressionen, Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten. Und auch heute noch werden junge LSBTIQ* von zuhause rausgeworfen, wenn sie sich outen“, so Leiter Sven Norenkemper.  Die Datenlage ist einmal mehr klar – und sie spricht eine deutliche Sprache, auch heute am internationalen Coming-Out-Tag. Offen bleibt nur eine Frage: Was machen wir endlich dagegen?  

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