Kulturkampf in den USA Werden LGBTI*-Jugendliche immer mehr zu Opfern im politischen Gefecht ums Weiße Haus?
Kommentar von Michael Schmucker
Die US-Präsidentschaftswahl im November entscheidet über das Überleben von tausenden queeren Jugendlichen – zu dieser markanten Einschätzung gelangten jetzt einige queere US-Medien. Der grundsätzliche Hintergrund ist durchaus ein ernster, die Schlussfolgerung indes darf durchaus hinterfragt werden.
Wahlkampf für Harris
Queere US-Aktivisten versuchen derzeit mit drastischen Botschaften alle noch unentschlossenen LGBTI*-Wähler von Kamala Harris zu überzeugen und bereits jetzt spricht sich laut Umfragen offenbar eine deutliche Mehrheit von Ihnen für die Demokratin als erste US-Präsidentin der Vereinigten Staaten aus.
Allerdings gibt es auch viele Schwule und Lesben, die nach wie vor mit Donald Trump zumindest sympathisieren. Bei der letzten Wahl vor vier Jahren votierte fast jeder Dritte von ihnen für Trump. Eine Studie offenbarte in diesem Frühjahr außerdem, dass LGBTI*-Themen für die meisten homosexuellen Amerikaner kaum mehr wahlentscheidend sind.
So geschlossen wie medial dargestellt ist die Community in den USA bis heute nicht, auch wenn das nur ungern laut ausgesprochen wird. Über 90 Prozent der LGBTI*-Amerikaner wollen zur Wahl gehen, über 70 Prozent sind dabei angeblich für Harris - die Zahlen stammen von einer amerikanischen LGBTI*-Lobbyorganisation und klingen ein wenig nach dem leicht verzweifelten Versuch einer selbsterfüllenden Prophezeihung. Bisher ist nur eins gewiss: Unter Trump dürften wie in seiner ersten Präsidentschaft einige Fördermittel für queere Verbände gekürzt werden.
Dramatische Zahlen gegen Trump
Queere Kamala-Fans beteuern indes, bei einer Wiederwahl von Trump könnte das gerade für viele queere Jugendliche „tödlich enden“. Trump hat mehrfach betont, dass er nicht an Gesetzen für Homosexuelle rütteln will, sehr wohl aber steht die Abschaffung möglicher Gesetze für Trans-Menschen und nicht-binäre Personen auf seiner Agenda, beispielsweise wenn es um die Rechte an Schulen oder um Sportwettkämpfe für Schülerinnen geht. Ein anderes Projekt von ihm könnte ein Verbot von geschlechtsangleichenden Behandlungen für Minderjährige sein. Gewinnt Trump, stehe die psychische Gesundheit der ganzen LGBTI*-Community auf dem Spiel, so das Credo. Gesetze gegen queere Menschen könnten laut einer Studie von diesem Jahr die Selbstmordrate unter transsexuellen und nicht-binären Jugendlichen um 72 Prozent erhöhen.
Probleme der LGBTI*-Jugend
Klar ist, dass es um die LGBTI*-Jugend in den USA insgesamt nicht gut bestellt ist, beinahe jeder zweite von ihnen (41%) hat laut dem Trevor Project im letzten Jahr an Selbstmord gedacht, 60 Prozent haben keinen Zugang zu fachkundiger Beratung und psychologischer Hilfe. Die Frage bleibt offen, wie sehr ein Donald Trump daran tatsächlich Mitschuld trägt, denn die Negativ-Zahlen sind zuletzt unter einer Biden-Regierung explodiert. Natürlich gilt es trotzdem ebenso zu bedenken, dass einzelne US-Bundesstaaten eigene sogenannte Anti-Trans-Gesetze erlassen haben, die nicht unter dem Wirkungsbereich des Präsidenten standen. Umgedreht ließe sich aber ebenso argumentieren, dass selbst unter einer möglichen zweiten Präsidentschaft Trump liberale Bundesstaaten dann queer-freundliche Gesetze erlassen oder festigen könnten.
Eine Welt der Extreme
Klar ist, der Kulturkampf in den USA, in dessen Zentrum die LGBTI*-Community steht, macht vielen queeren Jugendlichen Angst. Aber vielleicht ließe sich diese Furcht vor der Zukunft minimieren, wenn in die Debatte mehr Sachlichkeit Einzug halten würde und weniger Panikmache zum Zwecke der politischen Einflussnahme stetig vorangetrieben wird.
Wer nur Extreme aufzeigt, darf sich nicht wundern, wenn diese gerade junge Menschen in Depressionen und Angstzustände treibt. Vielleicht würde es schon ausreichen, einzugestehen, dass weder Harris die einzig wahre Heilsbringerin ist, noch das Trump das ultimative Böse für die Community darstellt – die Wahrheit liegt wohl in beiden Fällen irgendwo dazwischen. Doch für differenzierte Grautöne scheint knapp vier Wochen vor der Wahl kein Platz mehr zu sein.