Debatte um Sexarbeiter Nordisches Modell verstößt nicht gegen Grundrechte
Die Klage von 261 Sexarbeitern aus Frankreich scheiterte jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Im Kern ging es dabei um die Frage, ob die Kriminalisierung von Freiern nach dem sogenannten Nordischen Modell mit den Grundrechten vereinbar ist, explizit mit der Freiheit der Berufsausübung, dem Recht auf persönliche Autonomie und sexuelle Freiheit sowie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben.
Unverständnis unter LGBTI*-Verbänden
Die Richter des EGMR entschieden nun nach fast fünf Jahren, dass kein Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt. Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass die nationalen Behörden verpflichtet sind, den von ihnen beschlossenen Ansatz ständig zu überwachen, insbesondere wenn dieser Ansatz auf einem allgemeinen und absoluten Verbot des Erwerbs sexueller Handlungen beruht.
LGBTI*-Organisationen, Menschenrechtsvereine sowie auch HIV-Fachstellen sprechen sich seit Jahren gegen das Nordische Modell aus, das die Sicherheit und die Gesundheit von Sexarbeitern massiv gefährde. In Deutschland ist die Union ein Befürworter von Gesetzen, die Freier kriminalisieren, nicht aber die Sexarbeiter selbst.
Das jetzt gefällte Urteil des EGMR sorgt für viel Unverständnis unter LGBTI*-Verbänden, allen voran auch bei der ILGA Europe: „Unsere Organisationen sind führende Netzwerke der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen. Wir verfügen über jahrzehntelange Erfahrung und Expertise in den Bereichen Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung, Menschenrechte, sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte, HIV, Schadensbegrenzung, Rechte von LGBTI*-Personen, digitale Rechte, Menschenhandel, Migration, Rassengerechtigkeit und Strafjustiz. Alle zehn Organisationen sind zu demselben Schluss gekommen: Die Kriminalisierung des Kaufs von Sex oder eines anderen Aspekts der Sexarbeit schützt nicht die Rechte von Sexarbeitern. Sie geht auch nicht auf die eigentlichen Ursachen des sehr ernsten Problems des Menschenhandels und der Zwangsarbeit ein. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass der übermäßige Einsatz von Strafgesetzen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in Wirklichkeit den Schwächsten in unserer Gesellschaft schadet.“
Mehr Stigmatisierung
Laut der Organisation verhindern Kriminalisierungsmaßnahmen eine sinnvolle Einbeziehung und Konsultation von Sexarbeitern und verstärken die soziale Stigmatisierung. Alle Sexarbeiter als Opfer abzustempeln, sei dabei „herablassend“ und erschwere den Zugang zu gemeindegeführten Gesundheits- und Gewaltpräventionsprogrammen zusätzlich.
„Wir sind entsetzt über die Tatsache, dass solche Maßnahmen von einigen sogenannten feministischen Organisationen gefördert und gefeiert werden. Der so genannte ´Carceral Feminism´, der das Strafrecht als Instrument zur Erreichung der Gleichstellung der Geschlechter betrachtet, schadet denjenigen, die in unserer Gesellschaft am stärksten ausgegrenzt werden und unverhältnismäßig stark von rassistischen Profilerstellungen, Polizeibrutalität und übermäßiger Überwachung betroffen sind. Wir sind tief enttäuscht über diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.“
Einsatz für Entkriminalisierung
Die ILGA Europe wolle sich ungeachtet des Urteils weiterhin für die vollständige Entkriminalisierung von Sexarbeit einsetzen. „Nur durch einen menschenrechtsbasierten Ansatz, die Entkriminalisierung aller Aspekte der Sexarbeit und die sinnvolle Einbeziehung von Sexarbeitern und Menschenrechtsverteidigern von Sexarbeitern in die Entscheidungsfindung können Menschen, die Sex verkaufen, sowie Opfer von sexueller Ausbeutung geschützt und die Verletzung ihrer Rechte bekämpft werden“, so die ILGA Europe. Inhaltliche Unterstützung kommt auch von anderen Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International.