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Außenministerin Baerbock und das Afghanistan-Debakel
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Mit Hochdruck in den Leerlauf Bundesregierung lässt LGBTI*-Community im Stich

ms - 15.08.2022 - 10:30 Uhr

Ein Jahr. Seit genau einem Jahr muss sich die LGBTI*-Community in Deutschland wie – soweit überhaupt möglich – in Afghanistan anhören, dass die Bundesregierung schnell und unbürokratisch helfen werde. Nach dem Abzug der internationalen Truppen Mitte August 2021 war Afghanistan binnen Stunden abermals in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen – für Frauen, Homosexuelle und auch queere Menschen bedeutet dies ein Leben ohne Menschenrechte. Homosexuelle werden auf offener Straße am helllichten Tag angegriffen und massakriert. Frauen ohne Vollverschleierung droht ähnlich wie Homosexuellen die Todesstrafe. Tausende ehemalige Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte, viele darunter, die auch für Deutschland gearbeitet haben, harren seit 12 Monaten in Verstecken aus. Werden sie von den Taliban entdeckt, wird ihnen als Landesverräter ein kurzer Prozess gemacht – ein erneutes Todesurteil.

Über vierzig Menschenrechts- sowie LGBTI*-Organisationen wie beispielsweise auch der Lesben- und Schwulenverband Deutschland schreiben inzwischen beinahe monatlich offene Briefe – mal wütend, mal flehend, mal fordernd – mit dem Appell, dass die Bundesregierung endlich handeln müsse. Über 11.000 Menschen haben in Deutschland inzwischen auch eine Petition unterschrieben, in der sie Außenministerin Annalena Baerbock und Bundesinnenministerin Nancy Faeser immer wieder dazu aufrufen, jetzt endlich zu handeln: „Folter, Morde, außergerichtliche Hinrichtungen, Todesstrafen – nach der Machtübernahme durch die Taliban schweben Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen in Afghanistan in akuter Lebensgefahr. Die neuen Machthaber verfolgen LGBTI* gnadenlos und suchen gezielt nach ihnen. Die Grenzen sind weitgehend geschlossen. Eine Flucht schier unmöglich. Die Zeit rennt davon. Uns erreichen noch immer verzweifelte Hilfegesuche. Es gibt konkrete Namen, die auch der Bundesregierung vorliegen. LGBTI* können nach wie vor aus Afghanistan und den Nachbarländern gerettet werden. Es geht um Leben und Tod!“, so die LGBTI*-Aktion ALL OUT.

Die Bundesregierung hat viel versprochen: Es werde ein “humanitäres Aufnahmeprogramm“ geben, so steht es im Koalitionsvertrag 2021. Die Vorgängerregierung hatte außerdem zugesagt, mindestens achtzig LGBTI*-Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Die konkreten Namen liegen dem Auswärtigen Amt seit Monaten vor. Die Innenministerkonferenz hatte bereits im August 2021 beschlossen, besonders gefährdete Personengruppen aus Afghanistan schnellstmöglich nach Deutschland in Sicherheit zu bringen. Viele Mitglieder so gut wie aller Bundestagsparteien sind sich einig, wie dramatisch die Lage ist, wie entschlossen reagiert werden müsste. Eine Abgeordnete der Linken schreibt mit verzweifelten Worten: „Will die Bundesregierung weitere Tote riskieren, nachdem sie im Frühjahr bereits einräumen musste, Kenntnis von Todesfällen von Personen im Aufnahmeverfahren oder mit Aufnahmezusage für Deutschland zu haben?“

Die Frage will niemand so richtig beantworten, dabei ist sie eigentlich ganz offensichtlich: Ja, die Bundesregierung will das so. Es liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache, dass sich die Problematik zeitnah von selbst gelöst haben wird, wenn der letzte ehemalige Mitarbeiter der Bundesregierung und der letzte Homosexuelle gemeinsam gehängt worden sind. Ist das zynisch? Außenministerin Baerbock hat sich nun nach langem Schweigen tatsächlich zu der Situation geäußert: Deutschland werde sich in Afghanistan weiter für Menschenrechte und die Demokratie einsetzen, sagt sie. Nachdem die Ministerin eindringlich die dramatische Situation für Frauen mit eigenen Worten schildert, spricht sie schließlich von der Hoffnung, dass das Engagement um Demokratie der vergangenen zwanzig Jahre nicht umsonst gewesen sei. "Wir werden diese Menschen nicht im Stich lassen", versichert Baerbock. Und was jetzt? Nun, Baerbock erklärt weiter, man arbeite "mit Hochdruck daran, weiteren Menschen die Ausreise zu ermöglichen." Mit Hochdruck. Seit einem Jahr. Bleibt die Frage offen, was zynischer ist: Die Wahrheit einfach auszusprechen, dass der Bundesregierung LGBTI*-Menschen und ehemalige Mitarbeiter Deutschlands schlicht komplett egal sind, oder ist es doch die Aussage der Außenministerin, die mit konkreten Namenslisten auf dem Tisch mit betroffener Mine erklärt, man arbeite mit “Hochdruck“ daran.

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