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Die unbegründete Angst ums Grundgesetz
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„Die unbegründete Angst ums Grundgesetz" Schafft es die „sexuelle Identität“ ins Grundgesetz?

ms - 25.08.2023 - 17:00 Uhr

Es ist eines der großen Ziele der Ampel-Regierung: die Änderung des Grundgesetzes in Artikel 3. Ab diesem Monat soll nach der parlamentarischen Sommerpause wieder daran gearbeitet werden. Konkret geht es dabei um den dritten Passus des Artikels, nachdem in den ersten beiden Absätzen zuvor bereits die Gleichheit aller Menschen gesetzlich festgehalten wird. Im dritten Absatz werden dabei noch einmal Personen hervorgehoben, die aufgrund von diversen Merkmalen wie Geschlecht, Abstammung oder Glaube benachteiligt werden könnten. Um genau jenen dritten Teil wird seit Jahrzehnten gestritten, unter anderem auch über den Begriff „Rasse“. Mehrfach seit 1994 kamen in der LGBTI*-Community dabei die Forderungen auf, den Artikel 3.3 um die besondere Schutzbedürftigkeit von homosexuellen Menschen zu erweitern – die einzige Gruppe, die in der NS-Zeit besondere Verfolgung erlebt hatte und die sich bis heute nicht im Grundgesetz wiederfindet. Im Laufe der Jahre wurde aus der „sexuellen Orientierung“ dabei die Begrifflichkeit der „sexuellen Identität“, die sich inzwischen bereits auch in anderen Gesetzen wiederfindet, beispielsweise im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz sowie in einigen Landesverfassungen. Die Krux an der Sache: Was konkret eine Identität ist, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, es obliegt der persönlichen Selbstdefinition.

Seitdem wird innerhalb wie außerhalb der Community darüber gestritten, wie sinnvoll die Wortwahl tatsächlich ist – und ob sie nicht im schlimmsten Falle sogar jenem Personenkreis Rechte zuspricht, der keineswegs damit mitgedacht ist: Pädophile. Klaus Gärditz, Professor für öffentliches Recht an der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität, bekräftigte dies bereits vor über einem Jahrzehnt gegenüber der Welt-Zeitung und mahnte an, durch den Begriff der „sexuellen Identität“ könnten auch Pädophile einen Schutzstatus bekommen. Dem schloss sich damals auch Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe an: „Es ist kein gutes Signal, wenn die Verfassung mit einer Formulierung geändert wird, die es Pädokriminellen ermöglichen könnte, eigene Rechte einzufordern. Hier sollte auch im Interesse der Homosexuellenverbände jeder falsche Eindruck vermieden werden.“
 

Viele Paragrafen, viele Gesetze – braucht es eine Überarbeitung des Grundgesetzes für mehr Sichtbarkeit von LGBTI*-Menschen? © iStock/Karl-Hendrik Tittel

Immer wieder kommt also die Frage auf, warum es nicht ausreicht, die „sexuelle Orientierung“ ins Grundgesetz aufzunehmen, wie das zuletzt die Niederlande umgesetzt haben. Für die Ampel-Regierung ist die Formulierung nicht inklusiv genug, gerade mit Blick auf transsexuelle oder nicht-binäre Personen. Genau hier gibt es allerdings auch erhebliche Bewertungsunterschiede zwischen den Regierungsparteien und der Union – eine „sexuelle Orientierung“ würden CDU/CSU deutlich lieber mitgehen als die „sexuelle Identität“. Zwischenzeitlich wird erneut hinterfragt, ob es überhaupt einer Grundgesetzerweiterung bedürfe, denn grundsätzlich sind auch alle LGBTI*-Menschen durch den Artikel 3 bereits umfassend geschützt.

Das sieht der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, anders. Im Tagesschau-Interview erklärte er: „Ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Schutz ist wichtig, auch damit bestimmte Errungenschaften, wie die Ehe für alle, nicht wieder zurückgedreht werden können.“ Das Problem: Um das Grundgesetz zu ändern, bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat. Konkret bedeutet das für den Bundestag, dass nebst allen Bundestagsabgeordneten von SPD, FDP, Grüne und Linke auch mindestens 36 Unionspolitiker dem zustimmen müssten – sieht man einmal von der AfD ab, die dem Vorhaben bereits insgesamt widersprochen hat. Im Bundesrat müssten mindestens 46 der 69 Stimmen der 16 Bundesländer auch dafür votieren, auch hier bedarf es also der Zustimmung von mehreren Bundesländern unter einer CDU/CSU-Führung. Beim Berliner CSD in diesem Jahr sprach sich zuletzt der Regierende Bürgermeister und Regierungschef des Landes Berlin, Kai Wegner (CDU), für die Grundgesetzergänzung aus, ebenso wie zuvor der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Allerdings stehen noch in diesem Jahr in Bayern und Hessen sowie im kommenden Jahr in Sachsen, Thüringen und Brandenburg neue Landtagswahlen an, die die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ändern könnten. Zudem rückt die Bundestagswahl 2025 mit großen Schritten näher und es darf bezweifelt werden, ob die Union aktuell überhaupt noch offen für ein solches Vorhaben ist oder doch lieber ihr konservatives Profil weiter schärfen will.

In der Vergangenheit sind ähnliche
Initiativen im Bundesrat und im
Bundestag immer wieder gescheitert.
Ich erkenne nicht, dass es heute
mehrheitlich anders gesehen wird.

Lehmann erklärte dazu gegenüber SCHWULISSIMO noch im letzten Jahr:  „Es geht hier nicht um Regierung gegen Opposition, sondern um eine Menschenrechtsfrage. Ich kenne persönlich sehr viele CDU- und CSU-Politiker*innen, die für die Erweiterung des Grundgesetzes sind. Ganz viele sind hier sehr offen und bekunden auch in Gesprächen, dass sie damit kein Problem haben. Es kommt natürlich dann noch einmal auf die Ausgestaltung an. Am Ende wird es sich daran entscheiden, ob wir im Bundestag und im Bundesrat es aus der Mitte des Parlaments gemeinschaftlich auf den Weg bringen können.“ Kann das noch gelingen? Und wie sieht es verfassungsrechtlich mit den erwähnten Bedenken aus? SCHWULISSIMO sprach darüber mit dem Universitätsprofessor Dr. Christian Pestalozza von der Freien Universität in Berlin.

Erneut kam in diesen Tagen wieder die Debatte um eine Änderung des Grundgesetzes auf, nachdem Berlins Regierender Bürgermeister Wegner sich ebenso dafür ausgesprochen hat. Für wie realistisch schätzen Sie das Vorhaben aktuell ein?

In der Vergangenheit sind ähnliche Initiativen im Bundesrat und im Bundestag immer wieder gescheitert – vor allem mit der Begründung, die „sexuelle Identität“ sei bereits hinreichend geschützt. Ich erkenne nicht, dass es heute mehrheitlich anders gesehen wird.

Es gibt immer wieder Streit um den Begriff der sexuellen Identität. Gibt es eine klare juristische oder verfassungskonforme Definition hier?

Zahlreiche deutsche Normen, darunter fünf Landesverfassungen, nennen den Begriff, definieren ihn aber nicht. Soweit er neben dem Begriff „Geschlecht“ aufgeführt wird – wie zum Beispiel in den fünf Landesverfassungen – weiß man immerhin, dass mit ihm mehr oder anderes verbunden sein soll als mit dem Wort „Geschlecht“ – sonst wäre er dort überflüssig. Aber was genau, und was zudem der Unterschied etwa zur „geschlechtlichen Identität“ sein soll, ist unsicher. Dass die beiden Wörter je nach der Norm, in der sie auftauchen, unterschiedlich ausgelegt werden können, kommt hinzu. Bei alledem geht es hier nicht um eine „Verfassungskonformität“ des Begriffs, denn er soll ja gerade in die Verfassung eingeführt werden und hätte dann selbst Verfassungsrang.

Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, will im Rahmen des Aktionsplans „Queer Leben“ auch das Grundgesetz ändern, um erreichte Gesetze für LGBTI* besser abzusichern. © IMAGO/photothek

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass beispielsweise auch Pädophile denn überhaupt durch das Grundgesetz  geschützt werden könnten? Das Argument wird gern von Gegner eingeworfen.

Eine ziemlich abwegige Sorge, nachdem das einfache Gesetzesrecht und die erwähnten fünf Landesverfassungen den Begriff seit Jahren verwenden. Spätestens die Gerichte würden einen Pädophilen, der sich darauf berufen wollte, eines Besseren belehren.

Besteht denn überhaupt Missbrauchsgefahr, wenn ein solcher Begriff ins Grundgesetz aufgenommen wird, der bis heute keine einwandfrei klare Definition hat?

Die geschriebene Rechtsordnung ist voll von sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriffen“. Unsere Gerichte sind die Garanten dafür, dass sie weder überhandnehmen noch willkürlich interpretiert werden. Haben Sie Vertrauen in die Profis des Rechts.

Kritik an einer generellen Grundgesetzänderung kommt auch immer wieder aus der CDU, deren Vertreter erklären, dass auch LGBTI*-Menschen bereits durch den Artikel 3 geschützt seien, es bedürfe also gar keiner weiteren Grundgesetzänderung. Ihre Einschätzung dazu?

Das Erste ist richtig, das Zweite kein wirklich gutes Argument. Zum Ersten: Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowohl zu Artikel 3 Absatz 1 als auch zu Artikel 3 Absatz 3, Satz 1 bietet in der Tat hinreichenden Schutz. Zum Zweiten: Manche Grundgesetzänderung war schon in der Vergangenheit nicht wirklich notwendig, aber dennoch heilsam und hilfreich. Ich erinnere nur an den Schutz der Umwelt und der Tiere: Die Verpflichtung zu ihm ließ sich aus dem Grundgesetz schon zu einer Zeit ableiten, als es noch nicht so ausdrücklich von ihm sprach; dennoch war die Klarstellung durch deutlichere Formulierungen sinnvoll.

Befürworter der Gesetzeserweiterung erklären auch, dass nur so die Grundrechte von LGBTI*-Menschen gesichert sind und bleiben, auch wenn sich die politischen Machtverhältnisse in Deutschland ändern sollten.

Das gilt für alle Themen. Was nicht in der Verfassung steht, ist gegen Änderungen weniger gefeit. Dennoch liegen die Befürworter in unserem Fall falsch, weil die erwähnte Rechtsprechung zum bisher geltenden Artikel 3 – und zu Artikel 2 Absatz 1, wie man hinzufügen muss – diesen hinreichenden Grundrechtsschutz schon jetzt gewährt. Ich verstehe aber, dass es auch um noch mehr Sichtbarkeit, auch auf höchster Norm-Ebene, geht.

Was nicht in der Verfassung
steht, ist gegen Änderungen
weniger gefeit.

War die ganze jahrzehntelange Anstrengung für eine Grundgesetzänderung am Ende dann überhaupt sinnvoll oder eher unnötig?

Wie gesagt, auch „eher unnötige“ Verfassungsänderungen machen unter Umständen Sinn. Im Falle des Artikel 3 GG hätte ich allerdings eine gewisse Sorge: Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes bedarf einer umfassenden Präzisierung in allen seinen Teilen – auch anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieser grundsätzliche Reformbedarf könnte in den Hintergrund treten, wenn ein Teilstück vorweggenommen würde.

Wie sind denn unter Juristen die bisherigen Erfahrungen, wenn Sie mit dem Begriff der „sexuellen Identität“ im Beruf in Kontakt gekommen sind?

Es gibt eine ausgedehnte Rechtsprechung zu den einschlägigen Gesetzen. Sie zeigt, dass der Begriff trotz aller Unschärfen professionell handhabbar ist.

Abschließend befürchten Kritiker, dass es zu einer Welle von Klagen kommen kann, in denen sich Menschen auf die „sexuelle Identität“ im Grundgesetz dann beziehen könnten. Wie sehen Sie das?

Ich habe keine prophetische Gabe oder Neigung. Fordern und klagen darf jeder. Wichtig ist, ob und wann er Recht bekommt; auch insofern weiß ich auch diese Sache bei den Gerichten guten Händen.

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