Kampf den Büchern LGBTI*-Bücher in Plastik und 32.000 Euro Geldstrafe für den Verkauf von "Heartstopper"!
Zensur von Texten, Cancel Culture in der Literatur und Buchverbrennungen – wer sich zuletzt einmal auf dem internationalen Buchmarkt umgesehen hat, mag aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Geht es noch absurder? Ja, muss man sagen, blickt man in diesen Tagen erneut nach Ungarn. In den letzten Monaten kaufte dort eine Orbán-nahe Stiftung die einflussreichsten Verlage und Buchläden auf, um künftig Bücher mit homosexuellen Inhalten vor der Publikation bereits zu verhindern. Nun erfolgte der nächste Schritt, der größte Buchhändler des Landes, Libri, hat damit begonnen, Bücher, in denen LGBTI*-Charaktere vorkommen, in Plastik zu verpacken.
Ein Verhüterli für Kinder, nicht vor Kindern!
Warum? Damit soll verhindert werden, dass Kunden in den Geschäften in die Bücher hineinlesen können – in Konsequenz mit dem Ziel, dass die Bücher immer weniger gelesen und gekauft werden, während sich nebenbei der Markt für neue LGBTI*-Bücher im Verborgenen immer weiter lichtet. Offiziell geschehe dies auf Aufforderung der ungarischen Verbraucherschutzbehörde und sei ganz im Sinne des Kinderschutzes, auf den sich auch das zugrundeliegende Anti-Homosexuellen-Gesetz von 2021 in Ungarn beruft. Die Buchhandelskette war die erste in Ungarn, die die Plastik-Verpackung verwendet, inzwischen folgten bereits weitere Buchhändler auf dem Land dieser Praxis. Wenn man so will, ein Verhüterli für Kinder, nicht vor Kindern.
Das Buch in der Hand, ein Strafdelikt?
Der Angriff auf die Community erfolgt schrittweise, sodass kein Aufschrei in der breiten Bevölkerung ertönt. Bereits 2021 kurz nach dem Inkrafttreten des Anti-Homosexuellen-Gesetzes mussten die ersten Buchhandlungen Geldstrafen zahlen, weil sie Werke von homosexuellen Autoren oder mit LGBTI*-Inhalten verkauft hatten, ohne die Käufer explizit davor zu warnen, dass im Buch Lebensweisen jenseits der „heterosexuellen Norm“ präsentiert würden. Mit einem bitteren Lachen erklärte die ungarische Gay-Organisation Háttér, dass sich so bereits Eltern künftig strafbar machen könnten, wenn sie ihrem Kind einen Jugendroman mit einem LGBTI*-Charakter darin schenken.
Küssende Jungen im Comic? 32.000 Euro Strafe!
Besonders beliebt wird derzeit offenbar vor allem an Werken der britischen Autorin Alice Oseman Hand beziehungsweise eben Plastik angelegt – in ihrer Graphic-Novel-Serie „Heartstopper“ wird erzählt, wie sich zwei Schüler in England ineinander verlieben. Es geht um erste Liebe, Ängste und viel Herzschmerz, frei von Sex, aber mit fliegenden Herzen und Schmetterlingen. Netflix verfilmte bereits das erste Buch, Staffel zwei erscheint im August, die dritte Season wurde bereits abgedreht. Für die ungarischen Sittenwächter ist das zu viel, wie Bence Rétvári, Abgeordneter im ungarischen Parlament, auf Facebook erklärte: „In dem Buch Heartstopper findet man einen Comic mit küssenden Jungen. Die Eltern wissen nicht, ob sie provoziert werden oder ob ihr Kind bekehrt wird."
Das Regierungsamt der Hauptstadt Budepaest hat wegen "Heartstopper" nun auch die Buchhandelskette Lira mit einer Geldstrafe belegt - umgerechnet soll der Buchvertrieb rund 32.000 Euro Strafe zahlen. Die höchste Strafe, die jemals gegen ein Buchhandelsunternehmen in Ungarn verhängt worden ist. Lira kündite an, dagegen "mit allen Mitteln" vorgehen zu wollen.
Kommt Hilfe von der Zivilgesellschaft oder der EU?
Eszter Polgári, die Leiterin des Rechtsabteilung der Háttér-Gesellschaft, sagt dazu: „Der größte Nachteil ist, dass diese Bücher nicht mehr in den Regalen stehen werden, wo sie hingehören. Sie werden nicht in der Jugendabteilung, sondern in der Abteilung für Erwachsenenliteratur stehen, sodass die Zielgruppe sie gar nicht wahrnehmen wird.“ Und selbst dann sind die Werke eingeschweißt, ganz so, als würden die Jugendlichen ein Pornoheft kaufen wollen.
Der LGBTI*-Journalist Ádám András Kanicsár hofft, dass die ungarische Zivilgesellschaft sich wieder mehr für den Erhalt von LGBTI*-Kultur einsetzen werde. Zudem steht bestenfalls noch in diesem Jahr eine Entscheidung auf europäischer Ebene aus – 15 EU-Mitgliedsstaaten sowie das Europäische Parlament haben sich in diesem Frühjahr einer Klage gegen das Anti-Homosexuellen-Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof angeschlossen. Mal sehen, ob und wann die Plastikverpackungen wieder dahin wandern dürfen, wo sie hingehören – in den Sondermüll.