Rechtsruck in Spanien Wohin wandert Spanien und die LGBTI*-Community?
Richtungswechsel in Spanien? Ende Juli entscheidet sich bei den vorgezogenen Parlamentswahlen, wohin das Land politisch und gesellschaftlich gehen wird – es droht dabei eine Regierungsbeteiligung der extremen Rechten. Nach den Ergebnissen der Kommunal- und Regionalwahlen Ende Mai in Spanien und dem verheerenden Stimmenverlust bei den regierenden Linksparteien, hat der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez die Parlamentswahlen von Dezember dieses Jahr auf den 23. Juli vorverlegt und das bisherige Parlament aufgelöst.
Warum verloren die Linksparteien Stimmen?
Doch wie konnte ein Teil der Bevölkerung offenbar so plötzlich und überraschend politisch konservativ bis rechts wählen? Gibt es eine Begründung, warum die linken Regierungsparteien so herbe Verluste erlitten haben? Schuld am Wahldebakel sei die Zerstrittenheit der linken Parteien und die Machtspiele in der Regierungskoalition, erklärte der Politikwissenschaftler Pablo Simón gegenüber der Tagesschau. In einigen Regionen des Landes konnten so die Rechtsradikalen, die Partei Vox, ihre Stimmenanzahl binnen von vier Jahren verdoppeln.
Was das konkret für die LGBTI*-Community bedeutet, sieht man derzeit schon in der kleinen spanischen Stadt Naquera nahe Valencia. Die rechtsextreme Vox sitzt mit in der Stadtregierung und hat als erste Maßnahme vor wenigen Tagen beschlossen, Regenbogenfahnen an allen öffentlichen Gebäuden verbieten zu lassen.
Frauenfeindliche Queer-Politik?
Die spanische ehemalige Staatsrätin Amelia Valcárcel erklärte dabei jetzt gegenüber dem britischen Telegraph, dass die Regierung massiv an Stimmen verloren habe, weil sie sich mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz gegen Frauenrechte positioniert hätte. Wortwörtlich: „Keine Regierung kann mit Frauen gegen sie regieren.“ Seit der finalen Verabschiedung des neuen Gesetzes Ende 2022 haben sich die Fronten im Land offenbar verhärtet – inzwischen gibt es nach Angaben des Telegraphs eine „heftige, organisierte Gegenwehr“.
Immer mehr Frauenrechtlerinnen hätten so der spanischen Koalitionsregierung inzwischen den Rücken gekehrt. Am Wahltag hatten viele feministische Organisationen dann unter dem Slogan „Feminismus wählt keine Verräter“ zu einem Boykott gegen die, ihrer Meinung nach frauenfeindliche Politik der spanischen Regierung aufgerufen.
Proteste im Vorfeld nicht ernstgenommen
Bereits im Vorfeld des Gesetzes war es in Spanien zu massiven Protesten gekommen, nicht nur von feministischer Seite, sondern auch von hunderten Ärzten sowie der spanischen Gesellschaft für Psychiatrie oder der Madrider Ärztekammer. Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero von der Linkspartei hatte das Gesetz im Eilverfahren trotzdem durch alle staatlichen Instanzen gebracht – das scheint sich jetzt mit der letzten Wahl gerächt zu haben.
Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz ist ein Namens- und Geschlechtswechsel bereits als Kind möglich: Vor dem 12. Lebensjahr dürfen Kinder künftig bereits ihren Namen ihrem gefühlten Geschlecht anpassen, Schulen und Lehrer sind verpflichtet, darauf einzugehen. Ab dem 12. Lebensjahr darf die juristische Geschlechtsänderung auch in allen offiziellen Dokumenten erfolgen, zunächst noch unter Einbindung des Familiengerichts oder der Eltern, ab dem 16. Lebensjahr vollkommen eigenständig.
Platzt das neue LGBTI*-Gesetzpaket?
Die politische Stimmung im Land scheint inzwischen so aufgeheizt zu sein, dass auch viele LGBTI*-Menschen nun unter die Räder kommen könnten. In Madrid hat die rechte Volkspartei die absolute Mehrheit errungen und ist gerade dabei im ganzen Land Allianzen mit der rechtsextremen Vox-Partei einzugehen. Keine gute Ausgangslage für LGBTI*-Menschen – auch nicht für das eben erst beschlossene LGBTI*-Gesetzespaket, das Rechte von Homosexuellen und queeren Menschen im ganzen Land stärken hätte sollte. Ob das jetzt überhaupt noch umgesetzt werden kann, entscheidet maßgeblich die Wahl Ende Juli.
Ein Gesetz spaltet die Bevölkerung
Der britische Telegraph fasst in seiner Analyse die Sachlage so zusammen: „Keine Feministin freut sich über die Aussicht auf eine gestärkte Vox, aber die Wut, die bei den Wahlen zum Ausdruck kommt, ist eine Reaktion auf die Misshandlungen, denen zu viele Frauen ausgesetzt waren, zusätzlich zu den gesetzgeberischen Katastrophen, die einen Rückschlag für Spaniens historisch starke Frauenrechtsgesetzgebung darstellen. Im Februar verabschiedete die Regierung ein umstrittenes Transsexuellengesetz, dessen weitreichende Vorschläge von feministischen Gruppen und Oppositionsparteien einhellig verurteilt wurden. Jeder, der älter als 16 Jahre ist, kann nun sein Geschlecht in juristischen Dokumenten ändern, ohne dass eine ärztliche Überwachung erforderlich ist. Dieser Prozess der Geschlechtsidentifizierung wirkt sich negativ auf Frauenhäuser, Sport und Gefängnisse aus. Frauen, die sich dagegen wehrten, wurden verunglimpft, unabhängig davon, wie hochrangig oder prominent sie waren.“ Immer wieder sei es so in den letzten Wochen auch zu Demonstrationen gekommen, auch bei einer Kundgebung mit Gleichstellungsministerin Montero. Auf Plakaten von feministischen Gruppen war so in Richtung der Ministerin zu lesen: „Sie haben den Feministinnen nicht zugehört!“
Streitfall Sexualstrafrecht
Nebst dem Selbstbestimmungsgesetz wurde offenbar auch das neue Sexualstrafgesetz, umgangssprachlich „Nur Ja heißt Ja“ genannt, zum Fiasko. Die neue Gesetzgebung will zwar einerseits Frauenrechte stärken, sieht aber andererseits in gewissen Fällen eine niedrigere Mindeststrafe für Vergewaltigung vor, was inzwischen zur Folge hatte, dass bereits verurteilte Straftäter frühzeitig aus der Haft entlassen wurden. Bis Mitte Mai konnten nach offiziellen Angaben rund 1.000 Vergewaltiger ihre Strafe reduzieren und 108 wurden freigelassen. Zuerst stritt die Regierung jedwedes Problem ab, bevor man schlussendlich einräumte, das Gesetz noch einmal ändern zu wollen.
Die Wut der Frauen
Raquel Rosario Sánchez, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin an der Universität Bristol, erklärte dazu im britischen Telegraph: „Nach seinem Wahlsieg 2018 bezeichnete Pedro Sánchez seine Koalition als ´die fortschrittlichste Regierung´ in der spanischen Geschichte. Schön wär's. Keine Feministin, die ich kenne, freut sich über die Aussicht auf eine ermutigte harte Rechte. Aber das bedeutet nicht, dass eine harte Linke, die davon besessen ist, männliche Vergewaltiger in Frauengefängnisse zu stecken oder die weiblichen Kategorien bei Sportwettbewerben abzuschaffen, einen Freifahrtschein erhält. Wenn die spanische Linke annahm, dies seien leere Worte einer feministischen Bewegung, die weltweit für ihre Mobilisierungskraft bekannt ist, dann wurde ihr am Wahltag eine Lektion erteilt, dass man die Wut der Frauen nicht unterschätzen sollte.“