Kultur und queeres Erbe Dänemark würdigt Hans Christian Andersen
An einem sonnigen Augusttag hallten zeitgleich Glockenklänge durch zahlreiche dänische Kirchen, ein kollektives Innehalten im ganzen Land zum Gedenken an einen der größten Erzähler Europas: Hans Christian Andersen. Anlass war sein 150. Todestag, der in Dänemark nicht nur als Moment der Erinnerung, sondern zugleich als Auftakt einer ganzen Kultursaison rund um den berühmten Dichter begangen wird. Gleich mehrere Wochen lang steht insbesondere Andersens Heimatstadt Odense im Zeichen seines Schaffens und seiner Persönlichkeit, mit Lesungen, Theateraufführungen und unkonventionellen Kunstprojekten.
Wenn heute von Märchen die Rede ist, führt kein Weg an Namen wie Andersen vorbei. Mit Werken wie „Die kleine Meerjungfrau“, „Das hässliche Entlein“ und „Des Kaisers neue Kleider“ bereicherte der am 2. April 1805 geborene Odense-Sohn Kindheiten und Literaturkanons weltweit. Seine Geschichten entbehren jedoch oft des naiven Happy Ends und spiegeln stattdessen existenzielle Ängste, Außenseitertum und Sehnsucht wider – ein Spiegel der eigenen zerrissenen Lebensrealität. Die Brüche in Andersens Biografie, geprägt von Armut, prekären Verhältnissen und einer tiefen Empfänglichkeit für soziale Missstände, hallen noch in seinen feinfühligen Figuren nach.
Trotz seines späteren Ruhms blieb Andersen zeitlebens ein Wanderer zwischen den Welten: arm geborener Außenseiter, gefeierter Nationaldichter, sensibler Einzelgänger. In Dänemark sorgte zuletzt vor allem sein queeres Erbe für anhaltende Diskussionen. Diverse Forschende stützen heute die Annahme, dass Andersen homosexuelle oder bisexuelle Neigungen hatte, diese jedoch nie offen oder aktiv lebte. Viele seiner Briefe an Männer sind von emotionaler Intensität und unerwiderter Zärtlichkeit geprägt – sie erlauben einen vorsichtig intimen Blick auf eine Persönlichkeit, die Zeit ihres Lebens zwischen Nähe und Distanz, Schwärmereien und Melancholie schwankte.
Besonders bemerkenswert ist die Art und Weise, wie die offizielle dänische Erinnerungskultur inzwischen Andersens Vielfalt adressiert. Zum 150. Todestag organisierte die Kirche nicht nur ergreifende Glockenspiele. Auch Initiativen wie „Andersen Forever“ dehnen die Gedenkfeiern bewusst in den Herbst hinein aus und sorgen so für eine intensive und vielschichtige Auseinandersetzung mit seinem Werk. Odense, das heute als pulsierender Kulturstandort gilt, nutzt das Jahr, um Andersen mit innovativen Formaten aus verschiedensten Perspektiven zu ehren.
Hans Christian Andersen hat Generationen verzaubert. Doch auch sein persönliches Ringen um Identität macht ihn heute zu einer Symbolfigur für Menschen, die sich in klassischen Normen nicht wiederfinden.
Bis heute fasziniert nicht nur die literarische Kraft Andersens, sondern auch die stillen Untertöne seines Lebens, insbesondere für die LGBTIQ+ Community. Die Offenheit, mit der jetzt in Dänemark über Andersens queere Facetten gesprochen wird, gilt als Paradebeispiel für gelebte Diversität. Internationale Medien und Bildungseinrichtungen nehmen den runden Todestag deshalb zum Anlass, um nach dem gegenwärtigen Umgang mit queeren Kulturerben zu fragen und Debatten um Akzeptanz und Sichtbarkeit weiterzuführen.