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Stellungnahme im Fall Ungarn
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Stellungnahme im Fall Ungarn Vor Gericht: Das Anti-Homosexuellen-Gesetz und Ungarns homophobe Regierung. Derweil appellieren deutsche Promis an die Bundesregierung!

ms - 05.06.2025 - 10:00 Uhr
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In November letzten Jahres startete der größte Menschenrechtsprozess in der Geschichte der Europäischen Union: 16 Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission klagen gegen das Anti-Homosexuellen-Gesetz in Ungarn. Heute nun wird die Generalanwältin des EU-Gerichtshofs (EuGH) ihre Schlussanträge in der Klage verlesen, erwartet wird eine „bahnbrechende Stellungnahme“. Angesichts des jüngsten Verbots von Pride-Paraden im Land bekommt der heutige Verhandlungstag zusätzliche Brisanz. 

Ein politischer Wendepunkt 

Das Anti-Homosexuellen-Gesetz in Ungarn ist eine Blaupause des russischen Anti-Homosexuellen-Propaganda-Gesetzes von 2013. Unter dem Vorwand, Kinder zu schützen, schränkt das ungarische Gesetz seit 2021 die Rechte von Homosexuellen ein, zensiert die Sexualerziehung, verbietet alle Themen rund um LGBTIQ+ an Schulen und in den Medien und unterbindet auch Bücher mit queeren Inhalten. Angestoßen hatten das Verfahren drei internationale queere Organisationen, der Verein HATTER, Reclaim sowie Forbidden Colours. 

„Diese Schlussanträge könnten einen historischen Präzedenzfall schaffen, indem sie bestätigen, dass die Maßnahmen Ungarns nicht nur gegen bestimmte EU-Gesetze verstoßen, sondern auch gegen Artikel 2 EUV, die Vertragsklausel, in der die Grundwerte der EU verankert sind. Ein solches Urteil wäre ein bahnbrechender Schritt nach vorn bei der Durchsetzung der EU-Grundrechte – und einer mit weitreichenden Folgen. Ein politischer Wendepunkt!“, so Rémy Bonny von Forbidden Colours. 

Wegweiser für die Rechte der Community

Bestätigt das Gericht diese Sichtweise, legen die Richter damit auch verbindlich fest, dass ein Angriff auf LGBTIQ+ ein zentraler Verstoß gegen die Grundprinzipien der EU sind – für die Community wäre dies ein immenser juristischer Sieg. „Dieser Fall bietet eine historische Chance für den Gerichtshof, endlich zu bestätigen: Was Ungarn tut, ist nicht nur schlechte Politik. Es ist ein Angriff auf die Grundlagen der Europäischen Union“, so Esther Martinez, Geschäftsführerin von Reclaim.

Kommt es zu einem Urteil im Sinne der Community, wäre dies auch das erste Mal, dass die Justiz in einem Fall eingreift, in dem politische Mechanismen bisher versagt haben. Bereits im Jahr 2018 war ein Verfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn eingeleitet worden, weil die Regierung gegen EU-Werte verstößt – inzwischen herrscht hier Stillstand. „Dies ist ein Test für die Fähigkeit der Union, ihre eigenen Werte zu verteidigen. Seit Jahren ist Artikel 7 ins Stocken geraten, weil die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, Ungarns Verstoß zu benennen. Jetzt könnte der Gerichtshof das tun, was die Politiker ablehnen: den Vertrag aufrechterhalten“, so Bonny weiter. 

Ein Kampf „um die Seele Europas“

Das jüngste Pride-Verbot in Ungarn könnte dabei zusätzlich Feuer in die Debatte bringen – Ende Mai haben 20 EU-Mitgliedstaaten eine Erklärung angenommen, in der sie die EU-Kommission auffordern, gegen das neue Gesetz vorzugehen. „Doch obwohl dies die Pflicht der Europäischen Kommission ist, weigert sich Ursula von der Leyen immer noch, ihre Aufgabe zu erfüllen: ein neues Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten und einstweilige Maßnahmen gegen das Verbot zu beantragen. Die Kommission kann zu der Situation in Ungarn nicht  weiter schweigen! Dieser Fall ist nicht nur ein juristischer Kampf. Es ist ein Kampf um die Seele Europas“, so Rechtsexperte Vincent Reillon von Forbidden Colours. Ende dieses Jahres wird nach der heutigen Stellungnahme ein Urteil des EU-Gerichtshofes erwartet – die Richter hätten dabei sogar die Möglichkeit, das ungarische Gesetz von 2021 annullieren zu lassen. 

Protest von Prominenten

Derweil haben sich in einem offenen Brief jetzt Prominente zu Wort gemeldet, um ihre Solidarität mit der Community in Ungarn zum Ausdruck zu bringen. „Es darf in Europa nicht unwidersprochen bleiben, wenn der grundrechtliche Schutz von Menschenrechten und Demokratie ausgehöhlt und zerstört wird. Wir kritisieren aufs Schärfste die Kriminalisierung von friedlichen Demonstrationen wie dem CSD/Pride“, so die zentrale Aufforderung, versandt an die Bundesregierung, die ungarische Regierung und an die Europäische Union. Initiiert wurde der offene Brief von Entertainer Thomas Hermanns, Moderatorin Bettina Böttinger, Schauspieler Georg Uecker und Autorin Carolin Emcke. Einige Politiker der Linken und der Grünen sowie mehrere bekannte Persönlichkeiten haben den Appell bisher unterschrieben, darunter Hape Kerkeling, Barbara Schöneberger und Wolfgang Tillmans.  

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