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"Alle wollen mich tot sehen!"
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"Alle wollen mich tot sehen!" Entführung, Folter, Totschlag sind Alltag für LGBTI*-Iraker

ms - 28.03.2022 - 11:20 Uhr

Der neue Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zeichnet ein dramatisches und grausames Bild der aktuellen Lebenssituation queerer Menschen im Irak. Ausführlich kommen 54 LGBTI*-Menschen auf 86 Seiten zu Wort und berichten über die erlebten Gräueltaten, die die mächtigsten Milizen des Landes ungestraft in der LGBTI*-Community verüben. Entführungen, Folter und Totschlag sind Alltag für LGBTI*-Iraker geworden – und die Regierung lässt die homophoben Menschenhasser gewähren. Der Bericht trägt den Titel „Alle wollen mich tot sehen“, entnommen aus einem Interview mit einem queeren Iraker.

Die einzelnen Tatsachen-Erzählungen umfassen eine Zeitspanne von Juni bis November 2021. Willkür und ein masochistischer Spaß an Gewalt und Folter gerade auch von Polizisten bestimmen das Leben von queeren Menschen im Irak. Der Ruf nach einem Anwalt oder der Familie bleibt stets ungehört.  So berichtet unter anderem der schwule Iraker Laith folgendes:

„Mein Freund wurde vor meinen Augen getötet. Ich war nachts mit ihm verabredet. Ich ging zu seinem Haus und sah einen schwarzen Honda bei seinem Haus parken. Dann stiegen vier Männer aus dem Auto. Ich sah, dass zwei von ihnen Pistolen hatten. Sie hatten alle lange Bärte. Sie schlugen ihn, zwangen ihn in das Auto und fuhren weg. Ich folgte ihnen in meinem Auto. Sie kamen bei einem großen Bauernhof an, holten meinen Freund heraus und fingen an, ihn zu schlagen. Ich hörte ihn schreien und schluchzen. Ich wollte helfen, aber ich hatte Angst. Sie schlugen ihn etwa 20 Minuten lang weiter. Dann schossen sie fünf Mal auf ihn.“

Der öffentliche Charakter der dokumentierten Übergriffe, die sich meist am helllichten Tag auf der Straße ereigneten, und ihre abschreckende Intention sind dabei ein Zeichen für das Klima der Straffreiheit, das den Tätern stets gewährt wird. Zudem zeigt der willkürliche Charakter der Angriffe auch, dass Einzelpersonen als Teil eines größeren Plans ins Visier genommen werden, um diejenigen einzuschüchtern, die sich nicht an die Normativität halten, so Human Rights Watch. Und Rasha Younes von HRW fasst zusammen: 

"LGBTI*-Iraker leben in ständiger Angst davor, von bewaffneten Gruppen ungestraft gejagt und getötet zu werden, sowie vor Verhaftungen und Gewalt durch die irakische Polizei, was ihr Leben ebenso unerträglich macht. Die irakische Regierung hat nichts unternommen, um der Gewalt Einhalt zu gebieten oder die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die irakischen Behörden sollten damit beginnen, die Gewalt gegen LGBTI*-Personen öffentlich zu verurteilen und ihr Recht auf Schutz im eigenen Land zu gewährleisten."

"Alle wollen mich tot sehen!"

Offiziell werden alle Übergriffe gegenüber LGBTI*-Personen von Seiten der Regierung bestritten. Oftmals „verschwinden“ LGBTI*-Menschen auch einfach spurlos, sodass weitere Ermittlungen obsolet werden. Queere Menschen können auf der Grundlage einer Reihe vager Bestimmungen des Strafgesetzbuchs verhaftet werden, die alle darauf abzielen, die Moral und die öffentliche Anständigkeit zu überwachen und die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Die meisten, im Bericht dokumentierten Verhaftungen von queeren Personen hatten keine Rechtsgrundlage, auch nicht nach irakischem Recht. Zu den Haftbedingungen gehörten die Verweigerung von Nahrung und Wasser, das Recht auf Zugang zu Familie und Rechtsbeistand oder auf medizinische Versorgung sowie sexuelle Übergriffe und körperliche Misshandlungen. Zwei 18-jährige schwule Männer gaben beispielsweise an, dass sie einer erzwungenen Analuntersuchung unterzogen wurden.

Etwa die Hälfte aller befragten, queeren Iraker erklärten gegenüber HRW auch, sexuellen Missbrauch und Gewalt durch bewaffnete Gruppen erlebt zu haben, darunter unerwünschte Berührungen, Vergewaltigungen, Gruppenvergewaltigungen, Genitalverstümmelungen und erzwungene Analuntersuchungen.

Noch dramatischer ist, dass die queeren Iraker auch in der eigenen Familie nicht sicher sind – der Großteil der Befragten berichtete, dass sie auch durch, zumeist männliche Familienmitglieder bereits extreme Gewalt erlebt hatten. Zu dieser Gewalt gehörte, dass sie für längere Zeit in einem Raum eingesperrt wurden, dass ihnen Nahrung und Wasser verweigert wurden, dass sie verbrannt, geschlagen, vergewaltigt, mit Stromschlägen traktiert, mit vorgehaltener Waffe angegriffen wurden, dass sie Konversionspraktiken und Zwangshormonbehandlungen unterworfen wurden oder dass sie zwangsverheiratet wurden.

Human Rights Watch und IraQueer fordern abschließend all jene Staaten, die den Irak militärisch, sicherheitspolitisch und nachrichtendienstlich unterstützen, darunter die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Deutschland und Frankreich, auf, die irakischen Behörden dazu zu bringen, die Vorwürfe und Gräueltaten zu untersuchen und ihnen ein Ende zu bereiten. Anderenfalls sollten Länder gerade auch wie Deutschland jede Unterstützung des Landes vorerst aussetzen, bis die Regierung Maßnahmen zur Beendigung dieser schweren Menschenrechtsverletzungen ergreift.

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