30 Jahre Legal Die lange und menschenunwürdige Geschichte des Paragraphen 175
Insgesamt rund 123 Jahre existierte der berühmt-berüchtigte Paragraph 175 in verschiedenen Ausprägungen, der schwulen Sex unter Strafe stellte. Heute vor genau 30 Jahren trat am 11. Juni 1994 die Aufhebung des Paragraphen 175 offiziell in Kraft.
Ein Gesetz für die Moral
Bis zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt rund 140.000 schwule Männer auf Grundlage dieser Richtlinien verurteilt worden. Eingeführt worden war der Paragraph 1871, für das ganze Deutsche Reich galt er ab 1872 und schon damals war klar, dass ein Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex zwischen Männern nur aufgrund moralischer Erwägungen beschlossen worden war.
Ein zuvor in Auftrag gegebenes Gutachten bei der Königlichen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen war zu dem Urteil gelangt, dass man keine Gründe anführen könne, warum ausgerechnet die „Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts mit Strafe bedroht werden sollte.“ Das Gesetz wurde trotzdem beschlossen, denn: „Das Rechtsbewusstsein im Volke beurteilt diese Handlungen nicht bloß als Laster, sondern als Verbrechen.“
Verschärfung in der Nazi-Zeit
Ein halbes Jahrhundert später verschärften die Nationalsozialisten den § 175 im September 1935 noch einmal durch den Tatbestand, dass sämtliche „unzüchtigen Handlungen“ zwischen Männern fortan strafbar waren und mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus geahndet werden konnten. Bereits Küsse oder Blicke, später sogar eine vermeintlich „wollüstige Absicht“ reichten aus für einen Schuldspruch. Bis 1945 kam es so zu 50.000 Verurteilungen, viele tauend schwule Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt, wo sie als besonderes Zeichen den „rosa Winkel“ tragen mussten, womit sie in der Rangordnung ganz unten angelangt waren. Nur sehr wenige Schwule überlebten den Terror im Lager.
Kein Kriegsende für Schwule
Nach Kriegsende ging die Jagd auf Homosexuelle weiter, nun mit dem Schwerpunkt, Homosexuelle durch christliche Moral heilen zu wollen. Anders als in der DDR blieb der § 175 in der Bundesrepublik in der alten Nazi-Fassung sogar bis 1969 unverändert in Kraft und das Gesetz wurde gnadenlos auch weiter angewandt, denn schwule Männer galten noch immer als große Gefahr für die Gesellschaft und den Staat. In den ersten knapp 30 Jahren nach Kriegsende wurden so erneut rund 50.000 schwule Männer verurteilt, gegen weitere 50.000 Homosexuelle liefen staatliche Ermittlungsverfahren.
Die Polizei in jenen Tagen zeigte sich unerbittlich und machte Jagd auf Schwule, wo sie nur konnte: In Klappen, Bars, Saunen – überall kam es zu Razzien. Auf Toiletten stellten Beamte in Zivil vermeintlichen Homosexuellen Fallen und machten ihnen eindeutige Avancen – gingen diese darauf ein, wurden sie festgenommen. Es kam zu „Rosa Fahndungslisten“, Prozesswellen und gesellschaftlicher Ächtung mit oft lebenslangen beruflichen und privaten Konsequenzen für die schwulen Opfer. Der Historiker Hans-Joachim Schoeps hatte deswegen 1963 vermerkt: „Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende.“
Bundesgerichtshof bekräftigte § 175
Noch 1957 (und in Teilen ein zweites Mal sogar 1973) hatte auch der Bundesgerichtshof geurteilt, dass das Gesetz in seiner verschärften NS-Version verfassungskonform sei. Man sah auch weiterhin kein Problem darin, Schwule zu verurteilen, während es gegen Lesben keine Verbote gab. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts begründeten das damit, dass es Frauen leichter fallen würde, sexuell abstinent zu leben, während „der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen.“
Die „Verführung“ von Jugendlichen
Zu einem ersten Wandel im Denken kam es erst ab Ende der 1960er Jahre, nachdem Autoren, schwule Bürgerrechtler und einige Verlage eine Endtabuisierung einforderten. So kam es zwischen 1969 und 1974 zu mehreren kleineren Strafrechtsänderungen, eine „einfache Homosexualität“ wurde entkriminalisiert, gestrichen wurde der „Unzucht“-Paragraph aber nicht.
Im Gegenteil: Das Schutzalter wurde auf 21 Jahre hochgesetzt und noch Ende der 1980er Jahre bestätigte das Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl die Wichtigkeit der Richtlinien, denn man befürchtete die Verführung der Jugendlichen hin zur Homosexualität. So kam es weiter zu Polizeirazzien und Einrichtungen für junge oder jugendliche Schwule wurden verboten.
Der Mauerfall bringt die Wende
Erst der Fall der Mauer brachte schlussendlich wieder Bewegung in die Sache, denn in der DDR waren homosexuelle Handlungen schon 1968 entkriminalisiert worden. Zwischendurch drohte im Rahmen der Wiedervereinigung sogar die erneute Einführung des § 175 auch in den neuen Bundesländern. Schlussendlich blieb es einige Jahre bei einer zweigeteilten Lösung. Gute vier weitere quälende Jahre mit vielen politischen Streitigkeiten gingen ins Land, inklusive der Forderung der katholischen Bischöfe, den § 175 unbedingt beizubehalten.
Erst 1994 beschloss der Deutsche Bundestag endlich die Streichung des Gesetzes. Es dauerte daraufhin noch einmal 23 Jahre, bis der Bundestag im Jahr 2017 beschloss, die Urteile aufgrund des § 175 aufzuheben, die schwulen Opfer zu rehabilitieren und ihnen eine Entschädigung zuzusprechen.
Ein Jahr später im Juni 2018 entschuldigte sich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier offiziell bei den homosexuellen Männern: „Ihr Land hat Sie zu lange warten lassen. Wir sind spät dran. Was gegenüber anderen Opfergruppen gesagt wurde, ist Ihnen bisher versagt geblieben. Deshalb bitte ich heute um Vergebung – für all das geschehene Leid und Unrecht, und für das lange Schweigen, das darauf folgte."