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Das Ende von HIV bis 2030

Das Ende von HIV bis 2030 Wie realistisch ist das Vorhaben noch?

ms - 29.12.2025 - 14:00 Uhr
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Im Jahr 2021 definierten die Vereinten Nationen das klare Ziel der Mitgliedsstaaten, die AIDS-Epidemie bis 2030 zu beenden. Ende 2025 sollten erste Etappenziele erreicht werden – vielerorts hat das nicht geklappt, auch in Deutschland nicht ganz, wie das Robert Koch-Institut bestätigt. Erreichen wir das Ziel noch in den kommenden fünf Jahren? SCHWULISSIMO fragte nach bei Vorstandsmitglied Priv. Doz. Dr. med. Markus Bickel von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä). 

Wie realistisch ist Ihrer Einschätzung nach die Zielvorgabe der UN? 

Weltweit wird das Ziel, die Aids-Epidemie bis 2030 zu beenden, sicher nicht erreicht werden. Vor allem der massive Einschnitt der bislang sehr groß angelegten Förderung durch die US-amerikanische Regierung PEPFAR, aber auch durch die gleichzeitige Reduktion weiterer internationaler Fördergelder, sowohl aus der Europäischen Union als auch aus Deutschland, rückt dieses Ziel wieder in weite Ferne. Es gibt leider sehr realistische Hochrechnungen, dass dieser politisch gewollte Einschnitt Millionen neuer HIV-Infektionen zur Folge haben wird und mehrere hunderttausend Menschen mit HIV bis zum Jahr 2030 das Leben kosten wird. Die Fortschritte in der medikamentösen HIV-Prävention waren in den letzten Jahren bahnbrechend, daher ist die jetzige Reduktion der Fördergelder umso unverständlicher und dramatischer.

Ein Kernproblem hierzulande: Mindestens 8.200 Menschen in Deutschland haben HIV und wissen bis heute nichts davon. Was muss geschehen, um diese Menschen verstärkt zu erreichen?

Wir und andere Fachgesellschaften haben angeregt, dass die HIV-Testung in die Gesundheitsuntersuchung ab 35 Jahren mit aufgenommen werden sollte. Vor kurzem ist die Hepatitis B und C Testung in diese Untersuchung mit aufgenommen worden – mit sehr großem Erfolg. Die Situation bei HIV ist jedoch auch nicht ganz so klar, denn mir müssten sehr viele Menschen testen, um die verbliebenen Menschen mit einer HIV-Infektion zu finden. Dennoch scheint dieser Schritt notwendig, denn durch die in den letzten Jahren bundesweit etablierten, breit angelegten niederschwelligen Testangebote, vor allem in Gesundheitsämtern, sogenannten Checkpoints und durch die Möglichkeit zur Selbsttestung, konnte bislang kein Durchbruch erzielt werden.

Rund jede dritte Diagnose (33%) in Deutschland wird zudem erst bei fortgeschrittener Erkrankung oder dem Vollbild Aids erstellt, die sogenannten „Late Presenter“. Die hohe Zahl erschreckt, angesichts der Tatsache, dass bereits lange vorher diverse Symptome entstanden sein müssten. Warum ignorieren das offenbar so viele Betroffene?

In der FindHIV Studie haben wir explizit diese Frage untersucht. Hierbei kam zutage, dass viele dieser „Late Presenter“ sich bereits Jahre vor der AIDS-Manifestation, zum Teil auch mehrfach, im Gesundheitswesen an unterschiedlichen Stellen vorgestellt haben. Oftmals ist hierbei kein HIV-Test empfohlen worden. Manchmal ist der HIV-Test aber auch von den Betroffenen selbst abgelehnt worden, da sie das Risiko für sich nicht gesehen beziehungsweise falsch eingeschätzt haben. Die Lebenserwartung nach einer AIDS-Manifestation ist in statistischen Auswertungen reduziert, bei optimaler Therapie jedoch erfreulicherweise nicht mehr ganz so dramatisch. Für viel problematischer erachten wir, dass Menschen mit einer unerkannten HIV-Infektion andere Menschen infizieren können und so die Epidemie am Laufen halten.

Auch viele sogenannte Fast Track Citys haben es sich zur Aufgabe gemacht, bis 2030 die Pandemie in ihrer Stadt zu beenden, beispielsweise Frankfurt am Main, München, Mannheim oder auch Berlin. Parallel dazu erleben wir, wie Gelder für Prävention und Forschung im Bereich HIV massiv vielerorts genau dort zurückgefahren werden. Scheitern wir kurz vor dem Erreichen der Ziellinie an unserer Sparsamkeit?

Das steht zu befürchten. Daher haben wir bereits mehrfache Aufrufe gestartet. Hier ist die kontinuierliche politische Lobbyarbeit gefordert. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass die Entscheidungsträger, unabhängig von dem jeweiligen Einzelschicksal, die Problematik nachvollziehen können und vor allem die, durch rechtzeitige Identifizierung von Menschen mit HIV folgende, erhebliche finanzielle Entlastung des Gesundheitssystems erkennen.

Mittels neuster mRNA-Forschung wurden in diesem Jahr wichtige Erfolge im Kampf gegen HIV errungen. In Köln sorgte eine Studie über einen Antikörper für Aufsehen, der das Potenzial aufweist, eine HIV-Infektion zu 93 Prozent verhindern zu können. Wie bewerten Sie das?

Die Kolleg*innen der Uniklinik Köln arbeiten sehr effektiv und auf weltweit höchstem Niveau an der Erforschung sogenannter breitneutralisierende Antikörper (bnABs). Dieser Ansatz ist sehr spannend, insbesondere unter der Vorstellung, dass man durch eine Impfung einen solchen Antikörper in einem Individuum erzeugen könnte. Leider ist dies bisher jedoch noch nicht gelungen. Die Forschung an mRNA-Impfstoffen ist wichtig, spielt hier jedoch eher eine untergeordnete Rolle.

Im Gedächtnis vieler Menschen scheint das Thema HIV immer mehr in den Hintergrund zu geraten, gerade auch in der jungen queeren Community. Einerseits verständlich dank guter Therapiemöglichkeiten, andererseits vielleicht auch bedenklich? Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Dass jüngere Menschen keine Angst vor AIDS und dem Tod haben, ist erfreulich und nachvollziehbar, führt jedoch zum Teil zu einer Zunahme des Risikoverhaltens. In praktisch allen deutschen Großstädten gibt es niederschwellige Angebote zur medikamentösen HIV-Prävention (HIV-PrEP), die erfreulicherweise eine Kassenleistung darstellt. Einige der Klienten stellen sich zur Beratung vor, beginnen jedoch nicht oder erst sehr verzögert mit einer HIV-PrEP aus Angst vor unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Viele dieser Ängste sind vollkommen irrational, da wir seit zwanzig Jahren Erfahrung mit dieser Medikation haben. Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen sind uns bestens bekannt und bei regelmäßiger Kontrolle besteht kein relevantes Risiko für diese Klienten. Meine persönliche Einschätzung ist, dass insbesondere bisexuell lebende Männer das Risiko für eine HIV-Infektion fehleinschätzen. Ebenso ist der Anteil der Frauen sehr gering, da leider häufig das Wissen über die Möglichkeit einer HIV-PrEP fehlt. Hier ist kontinuierliche, weitere Aufklärungsarbeit notwendig.

Die WHO warnte inzwischen mehrfach vor einer Kondomflaute, gerade bei der jungen queeren Generation Z. Die Fallzahlen bei diversen Geschlechtskrankheiten steigen europaweit vielerorts wieder an, die Organisation appelliert an die verstärkte Nutzung des Kondoms. Ist das der richtige Weg?

Die HIV-PrEP wird stets empfohlen als zusätzlicher Schutz zur Benutzung von Kondomen. Wir kommunizieren dies auch genauso, kennen jedoch auch die Realität, die wir ebenso offen kommunizieren. Unter einer regelmäßig eingenommenen PrEP ist das HIV-Infektionsrisiko sehr gering, dennoch ist es nicht gleich null. Die Kondome schützen neben der HIV-Infektion auch vor anderen, wesentlich häufigeren, vor allem bakteriellen Geschlechtskrankheiten (Chlamydien, Gonokokken und Syphilis). In der Prävention dieser bakteriellen Geschlechtskrankheiten muss jedoch anders als bei HIV kommuniziert werden, denn es handelt sich hier nicht um unbehandelt immer tödlich verlaufende Infektionen. Die regelmäßige Testung, die in Schwerpunktpraxen, Checkpoints und Gesundheitsämtern immer mitangeboten wird, wird breit angenommen. Auch dies führt natürlich zu einer Zunahme der Zahlen. Langfristig ist zu hoffen, dass durch die rasche Identifikation von Geschlechtskrankheiten die Zahlen wieder sinken werden.

Für das Jahr 2024 vermeldete das RKI mehr als 3.200 gesicherte HIV-Neudiagnosen in Deutschland, wobei die Fallzahlen bei schwulen und bisexuellen Männern um neun Prozent angestiegen sind. Warum?

Das Problem der unerkannten HIV-Infektionen ist seit über zehn Jahren gleichbleibend: Menschen, die für sich kein Risiko sehen und daher die Testung nicht vorher in Anspruch nehmen und solche, die schon lange mit ihrer HIV-Infektion leben und bislang keine Symptome haben. Viele der Menschen mit einer HIV-Erstdiagnose haben die Infektion möglicherweise schon fünf bis zehn Jahre. Das ist eine Besonderheit bei der HIV-Infektion und leider auch das tückische. Bei einer frischen HIV-Infektion haben etwa  2/3 der Menschen ein bis zwei Wochen nach der Ansteckung Fieber, einen Hautausschlag und/oder leicht geschwollene Lymphknoten, dies unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich von anderen Virusinfektionen wie zum Beispiel Influenza oder einer Covid-Infektion, denn HIV selber macht sich eigentlich nur in sehr seltenen Fällen durch direkte Symptome bemerkbar. Das heißt, wenn die frische HIV-Infektion zur Diagnosestellung verpasst wird, vergehen meist weitere fünf bis zehn Jahre, bevor die Diagnose aufgrund dann auftretender sekundärer Symptome, welche durch den Immundefekt bedingt sind, gestellt wird.

Wie schätzen Sie es ein, dass wir in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich einen kompletten Schutz vor HIV zur Hand haben? Sei es nun durch eine Impfung oder eine tatsächliche Heilung.

Eine Impfung halte ich persönlich für leider unrealistisch, allein schon, weil Studien, um zu beweisen, dass die Impfung effektiv wäre, ethisch nicht durchführbar sind. In jeder hypothetischen HIV-Impfstoffstudie müsste es eine Kontrollgruppe geben. Diesen Menschen würden wir eine medikamentöse HIV-PrEP anbieten. Die Effektivität der regelmäßig eingenommenen HIV-PrEP ist jedoch so hoch, dass sich wahrscheinlich nur einzelne Personen, wenn überhaupt, infizieren würden. Eine Impfung müsste daher einen fast hundertprozentigen Schutz bieten, um eine solche Studie ethisch vertretbar zu machen. Wichtigste Innovation in den letzten zwei Jahren ist die Gabe von Lenacapavir als subkutane Injektion alle sechs Monate zur HIV-PrEP. In einer groß angelegten Studie gab es hierunter null HIV-Infektionen, in einer zweiten nur Einzelfälle. In den Medien wird dies oft dargestellt als eine Präventionsmaßnahme die „wie eine Impfung“ gegen HIV wirksam ist. Diese Aussage ist korrekt, führt jedoch bei vielen Menschen zur Fehlannahme, dass es sich hierbei um eine Impfung handelt. Die tatsächliche Heilung ist der eindringliche Wunsch aller Betroffenen. Das ist in mehreren groß angelegten Befragungsstudien klar gezeigt worden. Dieser Wunsch ist absolut nachvollziehbar, jedoch leider kurz- bis mittelfristig nicht zu erwarten. Es ist wichtig, Menschen mit einer HIV-Infektion hierüber auch aufzuklären. Mit der modernen Kombinationstherapie können wir quasi eine „funktionelle Heilung“ erreichen, die zu keinerlei Einschränkungen im beruflichen, privaten und sexuellen Leben führt. Das ist ein Erfolg, den wir so niemals, noch nicht mal vor zehn Jahren, erwartet hätten. Dennoch muss der Wunsch der Betroffenen auch unser Wunsch sein. Die Forschung zu HIV-Heilung wird weitergehen und neue Technologien werden hier ihren Platz finden.

Herr Dr. Bickel vielen Dank für das Gespräch.

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