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Scharfe Kritik an Böhmermann
Rubrik

Scharfe Kritik an Böhmermann Im Fokus die Debatte rund um das Selbstbestimmungsgesetz

ms - 07.12.2022 - 13:00 Uhr

Am vergangenen Freitag widmete sich ZDF-Moderator Jan Böhmermann in seiner Sendung “ZDF Magazin Royale“ dem Thema Selbstbestimmungsgesetz. Seit der Ausstrahlung empören sich dabei immer mehr Menschen sowohl aus der LGBTI*-Community wie aber auch von außerhalb über die offenbar einseitige Themensetzung, in der kritische Punkte zum geplanten Gesetz teilweise gar nicht besprochen wurden (Selbstbestimmung bei Minderjährigen) oder Ängste von Frauen (Schutzräume) verharmlost worden seien. Beifall kam von Seiten einiger queerer Aktivisten sowie auch aus der Bundesregierung, zuletzt twitterte Bundesfamilienministerin Lisa Paus unter dem Link zur Sendung: „Das neue Selbstbestimmungsgesetz kommt – egal, ob reaktionäre und menschenverachtende Personen (-Gruppen) etwas dagegen haben. Wir alle sollen unsere Persönlichkeit individuell entfalten können - ob vor, in oder ohne Kameras.“

Kritik auch aus der Community

Kritik kommt auch in Teilen direkt aus der Trans-Community, die ebenso in Böhmermanns Sendung offensichtlich Sachlichkeit und differenzierte Sichtweisen vermisste. Trans-Autor Till Randolf Amelung nimmt gegenüber SCHWULISSIMO in einem Gastbeitrag Stellung zur aktuellen Debatte um die ZDF-Sendung. Amelung ist Experte für Diversity, geschlechtersensible Gesundheitsversorgung und Intersektionalität. Er studierte Geschlechterforschung und Geschichtswissenschaften in Göttingen und arbeitet heute als Autor und Referent im Bereich LGBTI*.

Trans-Autor Till Randolf Amelung

Gastkommentar Till Randolf Amelung

Böhmermann, Kackhaufen und das Selbstbestimmungsgesetz

Vergangenen Freitag griff Böhmermann einmal erneut ins primitiv-fäkalische, indem er Feministinnen zur besten Sendezeit in seiner Sendung “ZDF Magazin Royale“ als “Kackhaufen“ beleidigte sowie eine direkte Linie von EMMA-Gründerin Alice Schwarzer zur AfD-Politikerin Beatrix von Storch konstruierte. Dementsprechend heftig fiel dann auch die Empörung in den sozialen Medien aus. Thema dieser Folge waren die Auseinandersetzungen um das geplante Selbstbestimmungsgesetz, welches das Transsexuellengesetz ablösen soll, sowie um Aussagen von Feministinnen zu den steigenden Zahlen unter Minderjährigen, die sich als trans outen.

Böhmermann hatte keinerlei Interesse an der Komplexität des Themas, stattdessen spulte er wie ein Automat transaktivistische Argumente ab. Es wurde überhaupt nicht erläutert, weshalb Feministinnen wie Schwarzer Kritik am Selbstbestimmungsgesetz und an einer allzu affirmativen Behandlung von Minderjährigen haben. Dabei ist dieser Ansatz auch in der Medizin nicht unumstritten: In einem aktuellen Artikel im Ärzteblatt ist beispielsweise zu lesen, dass es in vielen westlichen Ländern einen signifikanten Anstieg von Minderjährigen gibt, die sich als trans outen, aber die Fachleute sind sich keineswegs einig, was dafür die Hauptursache ist. Böhmermann ließ solche wichtigen Details jedoch vollkommen außen vor und suggerierte das Gegenteil, ohne hierfür aussagekräftige Belege zu liefern.

Auch der Umgang mit der Kontroverse um die Frage, wie viele biologische Geschlechter es nun gibt, stand der von Homöopathie-Anhängern und sogenannten Querdenkern gepflegten Wissenschaftsfeindlichkeit in nichts nach. Als Beleg für die These, dass es  mehrere biologische Geschlechter gebe, wurde einzig ein Tagesspiegel-Artikel eingeblendet, der sich wiederum auf einen Text der Biologin Claire Ainsworth beruft. Ainsworth jedoch hat bereits 2017 auf Twitter geäußert, dass ihr Artikel diesbezüglich falsch verstanden wird.  Stattdessen ist sich der öffentlich-rechtliche Klassenclown Böhmermann nicht zu schade dafür, Biologinnen wie Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard oder die Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht verächtlich zu machen, die dem widersprechen.

Gerade aber beim geplanten Selbstbestimmungsgesetz geht es auch darum, ein neues Verständnis von Geschlecht in der Gesellschaft zu etablieren, indem Geschlecht vollständig von materialistischen Gegebenheiten gelöst wird. Wer behauptet, das würde keine weitreichenden Konsequenzen und Auswirkungen auf gesetzliche Regelungen auf der Basis eines biologischen Geschlechtsverständnisses haben, ist nicht ehrlich. Nach den aktuell noch geltenden Prinzipien wird der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde durch Geschlechtsbestimmung anhand des biologischen Geschlechts bei der Geburt oder bei späteren Änderungen aus klar definierten Gründen (Trans und Inter), die nachgewiesen werden müssen, dokumentiert. Wenn eine auch nur annähernde Objektivierbarkeit eines Geschlechts künftig obsolet sein soll, könnte man gleich auf diese Erfassung in den Registern verzichten, denn dann wird sie nutzlos. Fällt jedoch alles der individuellen Selbstbestimmung zu, so darf dieses Prinzip dann nicht nur einseitig gelten. So, wie die einen dann auf ihrer persönlich empfundenen Geschlechtsidentität beharren dürften, müsste es anderen ermöglicht werden, dies ebenso selbstbestimmt gemäß der eigenen Wahrnehmung zu teilen oder ganz anders zu sehen.

Die Weigerung von Transaktivisten und ihren “Allies“ in der Bundesregierung, einen fairen Diskurs mit seriöser Folgenabschätzung für alle gesellschaftlichen Bereiche und Gruppen zu führen, wird Transpersonen und dem Anliegen einer TSG-Reform schweren Schaden zufügen. Zuletzt bewies die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), wie wenig Gespür sie hat, als sie die Böhmermann-Sendung auf Twitter in den höchsten Tönen lobte. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung zur Angleichung des Personenstands, die gesellschaftlich breit akzeptiert werden kann. Dies geht nicht ohne Regelungen, in welchem klar definierten Rahmen so eine Änderung möglich ist. Böhmermanns Sendung ist jedoch vollkommen ungeeignet, um eine sachliche, differenzierte Debatte anzuregen. Stattdessen ist diese Sendung vor allem Treibstoff für eine weitere Zunahme der gesellschaftlichen Polarisierung, die dann sehr hinderlich für das Erarbeiten einer sinnvollen Gesetzeslösung und deren gesellschaftliche Akzeptanz sein wird. Dies kann niemand wollen, der noch fähig ist, über den eigenen Bauchnabel hinaus zu denken.

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