Olympia für alle Ein schwuler Regisseur ist der kreative Kopf der Zeremonien
Heute Abend werden in Paris die Olympischen Sommerspiele 2024 feierlich eröffnet – erstmals findet die große Zeremonie nicht in einem Stadion, sondern auf vier Kilometern Länge inmitten einer Metropole statt. Erwartet werden nebst den 10.500 Athleten, darunter bisher auch offiziell 175 LGBTI*-Sportler, zudem rund 300.000 Menschen vor Ort – und ein Milliarden-Publikum weltweit vor den TV-Bildschirmen. Mastermind und künstlerischer Leiter der Eröffnungsshow ist der französische schwule Schauspieler und Theaterregisseur Thomas Jolly (42). Er betonte jetzt kurz vor der Eröffnungszeremonie, dieses Olympia solle ein Olympia für alle werden.
Games Wide Open
Jolly arbeitete zuvor als künstlerischer Leiter für mehrere Theater, bevor er 2022 zum Chef der Zeremonien für die Olympischen Sommerspiele in Paris ernannt wurde. Er war zu dem Job auserkoren worden, nachdem er in einem Interview ausführlich und salopp darüber räsoniert hatte, wie er eine Zeremonie an der Seine leiten könnte. Als die finale Jobzusage dann tatsächlich kam, war er so überwältigt, dass er unter Tränen seine Mutter anrief.
Mit den Eröffnungs- und Abschlusszeremonien möchte er der Welt deswegen nun zeigen, dass in Paris „Platz für alle ist“. Und weiter: „Vielleicht ist Paris ein bisschen chaotisch, das stimmt, aber das erlaubt es jedem, einen Platz für sich zu finden.“ Die Eröffnungsfeier werde nur dann ein Erfolg sein, so Jolly gegenüber der britischen Vogue, „wenn sich alle vertreten fühlen.“ Passend dazu auch der Slogan für die Olympischen Spiele und die Paralympics: „Games Wide Open“. Der Leiter des Organisationskomitees, Tony Estanguet, betonte dabei überdies, dass das Olympia-Motto „die Kraft darstellt, unsere Herzen und Köpfe zu öffnen und Unterschiede nicht länger als Hindernisse zu betrachten.“ Ähnlich sieht das auch Jolly, der die olympische Flamme durch das Departement Maine-et-Loire tragen durfte.
10.000 Sorgen beim „Wunderknaben“
Es ist die ehrgeizigste Eröffnungsfeier in der Geschichte der Olympischen Spiele und vielleicht auch diejenige mit den größten Beschränkungen. Für Jolly gab es zudem das Problem, dass er nicht an Ort und Stelle proben konnte, sonst wären all die gut gehüteten Highlights bereits vorab bekannt gewesen. Dazu kommen die massiven Sicherheitsvorkehrungen und ein unberechenbares Wetter.
„Um ganz ehrlich zu sein, ich mache mir über 10.000 Dinge Sorgen. Tatsächlich ist dieses Projekt so gigantisch, dass ich entweder sofort in Panik geraten und hier vor Ihnen zusammenbrechen kann, oder ich kann lernen, eine gewisse Distanz zu bewahren und die Dinge ruhig anzugehen“, so Jolly. Die Pariser und auch die Vogue sind der festen Auffassung, dass der „Wunderknabe“ das alles schaffe.
Die Welt des Theaters als Zufluchtsort
Seit seiner frühen Kindheit sei er ein „wandelndes Aushängeschild für großes Denken“ gewesen. Bereits in seiner Jugend in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich inszenierte er imaginäre Dramen, in denen er Kleopatra spielte, und imaginäre Opern, in denen er Tänzer dirigierte, während er Stücke von Verdi abspielt. Seine Eltern erlaubten ihm, alles für möglich zu halten, währen die Großmutter die Kostüme nähte.
Diese Unterstützung half ihm auch, mit all den Schikanen klarzukommen, die er als junger schwuler Jugendlicher auf dem Land erlebte. „Das erste Mal, als ich eine Bühne betrat, dachte ich, hier kann ich mit mir selbst im Reinen sein. Ich fühlte mich mir selbst näher als im Leben“, so Jolly. Jahre später, als er beispielsweise erfolgreich Shakespeare-Stücke mit 150 Personen und einer Dauer von 18 Stunden inszenierte, verglich die französische Presse seine anspruchsvollen und zugleich populären Inszenierungen mit der wuchtigen Kraft der US-Serie „Game of Thrones“.
Olympia wird „phantasmagorisch“
Zu einem ähnlich einmaligen Event sollen die olympischen Zeremonien jetzt werden: „Es ist ein Fest des Lebens und des Zusammenlebens.“ Dabei soll auch seine Vorliebe für griechische Amphitheater und ihren Mythen mit einfließen in eine „üppige, phantasmagorische Inszenierung“.
Jolly sieht darin auch eine Chance für die aufgeheizte politische Stimmung in Europa, die sich aktuell auch wieder verstärkt gegen LGBTI*-Menschen richtet: „Die Olympischen Spiele, so die Gründungslegende, sind heilend. Sie heilen die Pest und bringen Frieden.“
Nur für seinen Partner, der ebenfalls Thomas heißt, und für seine Familie blieb dem 42-Jährigen in den letzten zwei Jahren wenig Zeit. „Es ist isolierend. Ich weiß, dass ich mich von meiner Familie und meinen Freunden abkapsle. Aber ich werde das alles nachholen. Es wird schon gut gehen.“