Neue Identitätslabel wachsen Französische Generation Z: Wandel der Sexualität
Die Generation Z stellt traditionelle Vorstellungen von Sexualität zunehmend infrage. Immer mehr junge Menschen in Frankreich bezeichnen sich offen als bisexuell, pansexuell oder heteroflexibel – starre Identitätskategorien gehören für sie immer weniger zur Lebensrealität. Die Vorstellung, dass Heterosexualität die einzige „Normalität“ sei, verliert gerade in den städtisch geprägten, digital vernetzten Milieus der 18- bis 29-Jährigen an Gültigkeit. Doch auch wenn die Selbstverortung unter neuen Begriffen weiter zunimmt: Der gesellschaftliche Wandel in Liebesleben und Beziehungen vollzieht sich nach wie vor langsam und bleibt widersprüchlich.
Neue Selbstverständlichkeit jenseits der Heteronorm
Die Befragung „Contexte des sexualités en France“ des nationalen französischen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm) von 2023 belegt eine beachtliche Verschiebung in der sexuellen Identifikation junger Erwachsener: 14,8 % der Frauen und 9,3 % der Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren gaben an, bereits gleichgeschlechtliche Beziehungen gehabt zu haben. Zum Vergleich: Im Jahr 2006 lagen diese Werte noch bei 5,7 % (Frauen) und 3,8 % (Männer). Noch markanter ist der Anstieg bei der Identifikation mit Labeln wie „bisexuell“ oder „pansexuell“: 9,6 % der befragten jungen Frauen und 4,3 % der jungen Männer bezeichnen sich als bi (im Vergleich zu 2,8 % und 2,3 % in der Gesamtbevölkerung), 3,1 % der Frauen und 1,1 % der Männer als pansexuell.
Treiber dieser Entwicklung sind neben der anhaltenden politischen Emanzipation auch digitale Plattformen, die neue Räume der Selbstdarstellung und Begegnung eröffnen. Schon das Vorhandensein legaler Rahmenbedingungen wie der „Ehe für alle“ seit 2013 und die Verfügbarkeit von Community-Angeboten wirken sich, so Soziologinnen und Soziologen, positiv auf das Sicherheitsgefühl und die Offenheit Jugendlicher aus.
Der Wandel bleibt fragmentiert
Dennoch warnen Expertinnen und Experten vor einem allzu optimistischen Bild. Trotz der wachsenden Vielfalt an Begriffen bleibt die Lebenswirklichkeit vieler junger Menschen von Normen und Ausgrenzungsmechanismen geprägt. Vor allem in ländlichen Regionen oder unter Jungen ist der Druck, sich heteronormativ zu verhalten, nach wie vor spürbar. Die Soziologin Isabelle Clair, die an der CNRS forscht, beobachtet:
„Heterosexualität ist inzwischen nur noch eine Kategorie unter anderen, sie ist nicht mehr die Selbstverständlichkeit – aber die tiefen gesellschaftlichen Veränderungen verlaufen langsam, und besonders unter jungen Männern bleibt die Angst, als ‚andersartig‘ stigmatisiert zu werden, hoch.“
Studien zeigen, dass viele Jugendliche selbst dann, wenn sie sich innerlich als queer begreifen, im Alltag einen heteronormativen Lebensstil bevorzugen, um möglichen Diskriminierungen in Schule oder Familie zu entkommen. Lesbische Erfahrungen unter jungen Frauen etwa werden seltener offen gelebt, Heterobeziehungen bleiben für beide Geschlechter nach wie vor oft die sichtbare „Erwachsenenoption“. Erst mit dem Beginn eines selbstständigen Studierendenlebens, oft in größeren Städten, steigen Akzeptanz und Offenheit messbar an.
Dadurch entsteht eine neue Dynamik
In den ersten Jahren nach dem Schulabschluss, häufig zwischen 20 und 25 Jahren, verzeichnet die Forschung die größte Flexibilität in Bezug auf sexuelle Orientierung und Beziehungsmodelle. Erst danach, mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt und die stärkere gesellschaftliche Verantwortung, orientiert sich ein Teil der jungen Erwachsenen wieder an traditionelleren Mustern – das sogenannte „Zurückpendeln“, das Soziologinnen und Soziologen auch in anderen europäischen Ländern beobachten. Der Zugang zu digitalen Netzwerken, wie aktuelle Untersuchungen aus Großbritannien und Skandinavien bestätigen, begünstigt dabei eine offene Kommunikation und erleichtert Coming-outs, doch schützt nicht zwangsläufig vor Benachteiligungen oder Vorurteilen.
Auffällig ist, dass junge Erwachsene oft relativ früh ein queeres Label wählen, ihre Erfahrungen damit aber erst nach und nach ausleben – so berichten Beratungsstellen, dass viele Jugendliche zunächst online neue Begriffe und Communities entdecken, bevor diese in das eigene Beziehungsleben einfließen.
Was bedeutet all das für die Zukunft?
Der gesellschaftliche Diskurs rund um Sexualität wird sich aller Voraussicht nach weiter ausdifferenzieren. Die jungen Generationen beanspruchen sichtlich mehr Freiräume und stärken damit die Rolle von Vielfalt und Inklusion. Allerdings bleibt abzuwarten, inwieweit strukturelle Widerstände – etwa im Bildungssystem, in den Medien oder in der Arbeitswelt – abgebaut werden und wie stabil die gewonnenen Errungenschaften tatsächlich sind. Die politischen Entwicklungen in Europa zeigen: Rechte von LGBTIQ+-Personen sind keineswegs unumkehrbar gesichert.
Gerade für die Generation Z dürfte es entscheidend sein, wie stark progressive Solidarität und Akzeptanz weiter wachen – und ob neue Begriffe und Identitäten nicht nur individuelle Freiheit erlauben, sondern auch das gesellschaftliche Klima positiv verändern.
Weiterführende Informationen und Beratung bieten u. a. nationale LGBTIQ+-Organisationen, das Deutsche Jugendinstitut sowie der LSVD.