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Elektronische Patientenakte
Rubrik

Elektronische Patientenakte Kann es künftig zum Zwangsouting bei Schwulen und HIV-Positiven kommen?

ms - 25.04.2023 - 11:00 Uhr

Die Bedenken innerhalb der LGBTI*-Community bezüglich der angekündigten elektronischen Patientenakte (ePA) wachsen in den letzten Wochen immer mehr – noch sind viele Fragen offen, konkrete Pläne gibt es kaum. Auch gerade Ärzte mit Schwerpunkt HIV bezweifeln die Umsetzbarkeit und äußerten zuletzt mehrfach Kritik.

Das Ziel der angedachten elektronischen Patientenakte ist es, dass alle gesundheitstechnischen Daten, Impfunterlagen, Untersuchungen und verschriebene Medikamente einer Person gebündelt digital vorliegen – man erhofft sich dabei eine schnellere, effizientere Behandlung, auch und gerade bei Notfällen.

Zwangsouting durch die Patientenakte?

Doch was bedeutet das beispielsweise für schwule Männer? Werden sie mit einem Blick in die Daten bei jedem Arztbesuch künftig zwangsgeoutet, weil sich anhand von Medikamenten, möglichen Geschlechtskrankheiten oder Impfungen (Affenpocken) eine Homosexualität logisch erschließt? Wie sieht das mit Menschen mit HIV aus? Politisch werden die ersten Forderungen bereits laut, dass Patienten sehr konkret künftig entscheiden dürfen müssen, was welcher Arzt oder die Arzthelferin zu sehen bekommen – und was nicht.

Eindeutige Statements seitens des Gesundheitsministeriums gibt es noch nicht. Klar scheint nur, dass alle Bundesbürger in den nächsten knapp zwei Jahren bis 2025 aktiv widersprechen müssen (die sogenannte Opt-out-Regelung), ansonsten wird pauschal eine elektronische Patientenakte angelegt. SCHWULISSIMO fragte nach bei Christoph Weber, Internist und Infektiologe beim Checkpoint Berlin, eine der zentralen Anlaufstellen für die sexuelle Gesundheit von schwulen Männern und Trans-Personen.

Mit Blick auf homosexuelle und queere Menschen sowie Menschen mit HIV, wie bewertet der Checkpoint Berlin diese Pläne? Einerseits sicherlich eine Erleichterung, zudem lässt sich im Notfall schneller reagieren, andererseits besteht eine gewisse Gefahr gerade für Minderheiten.

Wir wurden bisher noch nicht auf die ePA angesprochen, daher brauchten wir bisher noch keine Position zum Thema einnehmen. Impulsartig schlagen an dieser Stelle zwei Herzen in meiner Brust. Der Mediziner in mir erkennt: Einerseits könnte natürlich eine Sammlung von Daten, natürlich anonymisiert,  helfen, bestimmte infektiologische Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzutreten oder Interventionen, Aufklärungskampagnen oder Ereignisse in ihrer Wirkung möglicherweise einfacher zu evaluieren, beispielsweise bei MPXV. Allerdings sagt mir eine andere Seite, dass hiermit auch ein neues Kontrollwerkzeug eingeführt wird, was selbstredend die Minderheiten früher negativ trifft als die Allgemeinbevölkerung. Ich bin mir nicht sicher, ob eine immer konservativer werdende Gesellschaft mit einer erstarkenden rechts-völkischen Flanke ein vertrauenswürdiges politisches Klima für eine ePA bietet.

Immer wieder wird auch die Angst von homosexuellen, queeren oder auch HIV-positiven Menschen erwähnt, möglicherweise mehrfach eine Art von Zwangsouting im medizinischen Bereich durchlaufen zu müssen. Konkret als Beispiel mit Blick auf eine Geschlechtskrankheit, will man vielleicht ja nicht, dass jede Arzthelferin sofort alle Befunde sieht, die vielleicht schon Jahre zurückliegen. Oder blicken wir auf Therapien – ein Zahnarzt muss beispielsweise doch nicht wissen, ob sein Patient vielleicht mal in psychologischer Betreuung war. Es gibt tausend ähnlicher Fälle, besonders gefährdet erscheinen dabei homosexuelle und queere Menschen mit oftmals sehr sensiblen, medizinischen Daten.

Sicherlich erscheint dies einem zuallererst als äußerst fragwürdig, insbesondere unter der Thematik Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt gegen die LGBTI*-Community. Verstärkt wird die Skepsis, wenn man sich die Ergebnisse der letzten Studie der Deutschen Aidshilfe zu Stigmatisierung (Positive Stimmen 2.0) betrachtet und erkennen muss, dass gerade im Gesundheitssystem – trotz medizinischen Fortschrittes – keine nennenswerten Fortschritte bei der Entstigmatisierung von HIV sichtbar sind. Das Gesundheitssystem bleibt der Ort, wo die meisten Menschen, die mit HIV leben, am stärksten Diskriminierung wahrnehmen. Dies gilt auch für die Präventionsarbeit, hier sind wir besonders auf das Vertrauen unserer Klientel angewiesen. Wir können nur hoffen, dass uns diese Digitalisierung dabei nicht massiv zurückwirft in bestimmten Betroffenengruppen.

Zudem sollen die Daten auch zu "Forschungszwecken" verfügbar sein. Auch das kann bei aller Bescheinigung ob einer anonymen Weitergabe der Daten für Angst unter LGBTI*-Menschen führen, oder?

Ich denke, die Regelungen wer, wie und was überhaupt gesammelt und erhoben werden soll, und warum, sind noch nicht besonders gut ausgehandelt und dennoch sollen die Menschen bereit sein, gegebenenfalls auch sehr intime Details für big data medicine freizugeben. Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht auf große Gegenliebe in der LGBTI*-Community führen wird. Bedenkt man als Beispiel nur, dass die Polizei seit Jahren Daten über HIV-positive und HCV-positive Menschen in einer Datenbank mit dem lustigen Namen ANST (für „ansteckend“) sammelt und jeder Protest zur Löschung dieser Datenbank bisher ungehört verhallt ist. Alles nicht sehr vertrauenserweckend. Aktuell müsste man wohl jedem raten: opt out (aktiv widersprechen), solange du noch kannst.

Ganz direkt für den Checkpoint: Könnte eine solche elektronische Patientenakte mehr Nachteile für euch haben?

Na klar! Siehe oben. Der Checkpoint wird von sehr vulnerablen Communitys besucht, die in mehrfacher Hinsicht Diskriminierungserfahrungen haben machen müssen. Wir überlegen uns schon die ganze Zeit, wie wir einen geschützten Raum in vielerlei Hinsicht überhaupt aufrechterhalten können.

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