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Umfrage Und plötzlich war alles anders

vvg - 11.08.2024 - 14:00 Uhr

Ich hatte immer schwierige Partnerschaften und lebte bis vor einem Jahr in einer toxischen Beziehung. Hinzu kamen Angststörungen, die mich so sehr hemmten, dass ich überhaupt nicht in der Community unterwegs war. Ich habe kaum etwas unternommen und wusste auch nicht so recht, wie man etwas unternimmt und wie man in die Szene kommt. Mein Partner hat gemacht, was er wollte und seinen SEX ausgelebt. Ich konnte mich weder davon zu lösen. noch mir eigene Aktivitäten zu suchen. Ich wusste über Jahre nicht, wie man Freunde findet; wie man Freundschaften hält. Ich habe nur zuhause gesessen, habe viel gelesen und bin kaum rausgegangen.

Dann kam im letzten Jahr eine Erkrankung hinzu. Ich hatte eine Operation und es bestand die Gefahr, diese nicht zu überleben. Zum Glück hat sich aber die Diagnose nicht bestätigt. In meinem Kopf jedoch hat sich ein Schalter umgelegt. Plötzlich war mir klar, dass ich den Rest meines Lebens so nicht weiter verbringen möchte. Ich wollte Leben und dazu gehören Freunde, Aktivitäten und für andere da zu sein.

Seit einem Jahr ist alles anders: Ich habe viele Freunde gefunden und durch die Vereine, für die ich tätig bin, hat sich mein Leben verändert. Da ist zum einen der „Regenbogen-Potsdam e.V.“, der den Fahrrad-Pride in Potsdam organisiert und zum anderen der CSD-Verein Magdeburg, der verschiedene CSDs in Sachsen-Anhalt organisiert. Diese beiden Vereine haben mein Leben nicht nur verändert, sondern auch bereichert. Ich komme hier mit Menschen zusammen, unter denen ich mich wohl und zugehörig fühle. Ich war ein sehr introvertierter Mensch, heute kann ich aus mir rauskommen und eine andere Seite von mir er- und ausleben. Das macht mich stolz und glücklich.

Björn aus Potsdam

Brian // © vvg

Ich hatte Ostern 2024 einen Gehirnschlag. Ohne jegliche Vorzeichen kippte ich um und landete in der Berliner Charité, wo ich vier Tage im Koma lag. Beim Aufwachen wusste ich nicht, wer ich bin und konnte nicht mehr sprechen. Erst nach zwei Wochen funktionierte mein Gehirn langsam wieder, allerdings habe ich bis heute Sprachausfälle und Wortfindungsstörungen; die Buchstaben und Silben verdrehen sich - ebenso die Zahlen. Meine rechte Körperseite und mein Gesicht waren gelähmt, da der Hirnschlag in der linken Hirnhälfte war. Als ich in meine Wohnung kam, war ich unfähig etwas alleine zu machen. Mein Bruder, die Nachbarin und meine Drag-Freundinnen haben mich gepflegt, gewaschen, angezogen und versorgt. Von dieser unglaublichen Hilfe war ich überwältigt. Nach zwei Monaten kam ich in die Reha nach Bad Düben, einer Spezialklinik in Sachsen. Durch einen befreundeten Therapeuten, der sich sehr für mich einsetzte, bekam ich Physiotherapie-, Logopädie- und Ergotherapie; all das brauche ich, um in meinen Beruf als Drag und künstlerischer Leiter der „Magie der Travestie“ wieder arbeiten zu können. Ich kann mich schon wieder ausdrücken, auch wenn die Leute manchmal raten müssen, was ich sagen möchte. Bewegen kann ich mich schon wieder gut - allerdings wohl noch nicht auf Stöckelschuhen. Ich habe aber eine gute Prognose, dass sich meine Aphasie auflösen wird. Ich kämpfe, dass ich bald wieder mit meinem Life-Gesang, meiner Conference und Wortgewandtheit als Gloria Glamour auf der Bühne stehen kann, denn das ist mein Leben. Ich werde in Zukunft mehr auf meine Gesundheit achten müssen, mein Körpergewicht habe ich schon um 25% reduziert.

Und übrigens das holländische Lied in meiner Show, kann ich ohne Sprachstörungen singen.

Brian alias Gloria Glamour aus Berlin

José Louis // © vvg

Ich komme aus Caracas/Venezuela. Dort habe ich 8 Jahre als Flugbegleiter bei der Lufthansa gearbeitet. Das war möglich, da ich für einen Sprachkurs zwei Jahre in Deutschland gelebt habe. Dann erfuhr ich über einen Landsmann, der in Deutschland lebte, dass es eine Stellenausschreibung für Deutschland gab. Ich habe mich beworben, mir aber keine großen Hoffnungen gemacht. Es hat geklappt und so bekam ich 2009 für zwei Jahre diesen befristetet Job. Noch vor Ablauf der zwei Jahre, hat man mir einen unbefristeten Vertrag angeboten. Das war keine einfache Entscheidung, den Vertag anzunehmen. Aber ich war jung und machte mir kaum Gedanken über die Tragweite dieser Entscheidung, wichtig war mir, dass ich fliegen konnte. Ich hatte bisher schon Einiges vom Leben in Deutschland kennen gelernt, vieles wurde aber über meinen Arbeitgeber geregelt. Plötzlich musste ich mich selbst um alles kümmern: und. Völlig neu war z.B. einen Mietvertrag abzuschließen und sich um alle nötigen (Pflicht-) Versicherungen zu kümmern. So etwas gibt es bei uns in Venezuela weniger. Es ist hier alles viel organisierter, aber auch bürokratischer. Die deutsche Sprache zu erlernen, hatte ich zum Glück schon früh begonnen, aber es war eine große Herausforderung. Heute denke und träume ich manchmal sogar in Deutsch. Ich habe mich inzwischen zwar gut „eingedeutscht“, lerne aber immer noch dazu. Ich mag die Menschen und die europäische Kultur. Allerdings fehlt mir meine Familie und Probleme bereitet mir vor allem das Wetter im Winter. Ich liebe die Sonne.

Ein Argument, für meine Entscheidung in Deutschland zu leben, war der offene Umgang mit Homosexualität und die Möglichkeiten, die das queere Leben hier bietet. Das war damals in Venezuela so nicht möglich.

José Louis aus Caracas/Venezuela, lebt in Düsseldorf

Maurizio // © vvg

Ich hatte eine schwere Kindheit, wuchs mit viel Gewalt in der Familie auf. Schwäche und Gefühle zeigen waren tabu und wurden mit körperlicher und psychischer Gewalt bestraft. Zuerst durch meinen Vater und als meine Mutter sich scheiden ließ, setzten meine fünf älteren Brüder die Torturen fort. Mit 14 traf ich auf eine Gruppe Außenseiter, mit denen ich den Alkohol in Form von Wodka kennenlernte. Ich bekam gute Laune, wir lachten viel und hatten Spaß. Ich nannte sie meine Freunde und hatte eine Möglichkeit gefunden, der Gewalt in meiner Familie kurzzeitig zu entfliehen. Mit der Zeit veränderten sich die Drogen: über Kiffen und Ectasy bis hin zu wirklich harten Drogen. Wir hockten nur im Keller und träumten uns das Leben schön.

Ich kann den Tag, an dem alles anders wurde, genau datieren: Es war der 12. Juni 2023, 15 Uhr. Da wurde der Krankenwagen gerufen, weil ich durch die Einnahme von Drogen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Dazu kamen beruflicher Stress, eine toxische Beziehung und ich hatte wegen Drogenkonsum fast sieben Tage kaum geschlafen. Als ich zusammenbrach hatte ich Angst zu sterben, mein Herz schlug langsamer, meine Beine waren taub, dass ich nicht mehr laufen konnte. Ich dachte, ich müsste raus aus diesem Leben ... und kam drei Monate in die Psychiatrie. Hier wurde ich wiederhergestellt. Mittels Diagnose bekam ich die sogenannte zweite Chance und Hilfe durch Entzug, Verhaltenstherapie und Psychoanalyse.

Ich habe meine Vergangenheit zurückgelassen, ziehe gerade in eine andere Stadt, kann mich endlich selber lieben und gehe daran, meine Ideen und Wünsche umzusetzen. Ich bin erstaunt, wie einfach das ist:  mit Unterstützung von ehrlichen Menschen und aus eigener Kraft ohne Drogen.

Maurizio aus Detmold

Rolf // © vvg

Eines Tages erhielt ich die Nachricht, dass Werner – einer meiner besten Freunde - plötzlich verstarb. Schlimm war, dass ich mich nicht mehr von ihm verabschieden konnte.

Wir haben viel zusammen unternommen, haben gemeinsam Urlaub gemacht und oft und lange miteinander telefoniert. Wir konnten über alles reden, wie man es eben nur mit dem besten Freund kann: Über Liebeskummer, Arbeitsprobleme, familiäre Sorgen. Mir war es aber immer wichtig, unsere Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen. So hatten wir nie Sex miteinander, obwohl Werner mal geäußert hatte, dass er gern mit mir zusammen wäre. Er lebte in Düsseldorf, ich in Köln – gemeinsam haben wir sehr viel in der jeweils anderen Stadt unternommen. Da wir gegenseitig bei dem anderen übernachteten, konnten wir dadurch viel in den Nächten unternehmen. Werner war sehr gesellig und aktiv im Düsseldorfer Karnevalsverein "KG Regenbogen", so gab es auch in der jecken Zeit viele gemeinsame Momente. Kennen gelernt haben wir uns 2007 in der damaligen Kult-Kneipe „Zicke", wo es eine Travestie-Talentshow gab. Wir begegneten uns in der Garderobe im Kostüm und spürten sofort eine Seelenverwandtschaft. Werner gewann da nicht nur den Wettbewerb.

Er fehlt mir heute immer noch sehr. Letzte Woche war sein Todestag und ich denke gerade wieder viel an ihn. Ich habe immer noch Sprachnachrichten von ihm auf meiner Mailbox. Seit seinem Tod ist für mich die Stadt Düsseldorf nicht mehr von Bedeutung und unser damaliger Freundeskreis trifft sich nur noch sporadisch. Eine so intensive Freundschaft wie mit Werner werde ich wohl nie mehr finden. Ich habe andere Freunde gefunden, was mit zunehmendem Alter auch nicht einfacher wird. Einen „besten Freund" zu haben, ist wohl etwas Besonderes, wenn nicht gar etwas Einmaliges.

Rolf aus Köln

Talon // © vvg

Mein Leben hat sich verändert, als ich vierzehn war. Die Mutter meiner besten Freundin sagte mir, dass ich sie an den Cousin der Freundin erinnere; der sei homosexuell. Dadurch wurde mir bewusst, dass ich auf Jungs stehe. Ich bin dann so ganz offen bei meinem ersten CSD mit Make-up und als Drag in Schönebeck mitgelaufen und arbeite seitdem dort im Verein mit.

Damals lebte ich noch in einem sehr kleinen Dorf. Meine damaligen Freunde haben sich von mir abgewendet - mit „Solchen" wollte man nichts zu tun haben; dafür fand ich neue Freunde in der Gay-Community, die mich echt unterstützten; sodass ich ICH sein konnte und so leben konnte, wie ich wollte. 

Nun musste ich allerdings noch meine Familie aufklären. Bei meiner Oma - bei der ich aufwuchs - kam mir eine hilfreiche Idee: Sie war Fan von Ross Antony und ich habe sie gefragt, ob sie es schlimm fände, wenn ich auch so leben würde, wie ihr Lieblingsschlagersänger? Sie fragte mich, wie ich das meinte und ich sagte ihr, dass ich auch schwul sei. Ihre Reaktion war cool: Sie nahm mich in die Arme und sagte, „Ich liebe dich so, wie du bist.“. Ich habe mich dann bei meiner Familie geoutet: Zusammen mit Oma habe ich einen Kuchen in Regenbogenfarben gebacken und zum Kaffee geladen. Als ich es ausgesprochen hatte, haben sie mich groß angesehen und gefragt: „Warum erzählst du uns das? Wir wissen das und akzeptieren dich so, wie du bist". Ich hatte mir umsonst Sorgen und Ängste gemacht. Seitdem hat sich tatsächlich alles verändert und ich kann leben, wie ich möchte. Mittlerweile lebe ich in Magdeburg, arbeite in einem Frisörsalon und fühle mich glücklich und frei.

Talon aus Magdeburg

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