Emotionale Gedenkstunde Ein Tag, der in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen wird
Erstmals gedachte der Deutsche Bundestag heute auch den LGBTI*-Opfern der NS-Zeit und stellte dabei in emotionalen Reden fest, dass vor allem aber nicht nur für homosexuelle Männer die Verfolgung auch nach Kriegsende 1945 nicht endete. Für viele, so der nach Paragraf 175 verurteilte Klaus Schirdewahn, ging der Krieg in gewisser Weise weiter.
Ein Leben im Schatten von Paragraf 175
Gerade die Rede von Schirdewahn, der heute Leiter der Gruppe “Gay and Gray“ in Mannheim ist, bewegte viele Anwesenden sehr – am Ende dankten sie ihm mit stehendem Applaus. Schirdewahn erzählte, wie er mit 17 Jahren zwangsweise aufgrund des Paragrafen 175 (Verbot von sexuellen Handlungen zwischen Männern) zu einer Therapie verurteilt worden war, sein damaliger 21-jähriger Sexualpartner kam direkt ins Gefängnis. Viele Jahre lang verheimlichte Schirdewahn daraufhin seine Homosexualität, heiratete eine Frau und bekam eine Tochter. Erst vor wenigen Jahren nach der endgültigen Streichung des Paragrafen 175 im Jahr 1994 outete er sich offiziell – gerade einmal seit knapp fünf Jahren ist er ebenso offiziell nicht mehr vorbestraft. Schirdewahn meinte dazu unter dem nachhallenden Applaus aller Politiker, er habe zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl gehabt: "Ich bin ich."
Berichte von Zeitzeugen
Ebenso tief beeindruckt zeigte sich der vollbesetzte Saal des Bundestages von den beiden Zeitzeugenberichten, vorgetragen von Maren Kroymann und Jannik Schümann, geschrieben vom Historiker Lutz van Dijk, der sich jahrelang für eine Gedenkstunde dieser Art eingesetzt hatte und dabei zuletzt immer wieder an dem rigorosen Nein seitens des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfang Schäuble (CDU) gescheitert war. Schäuble war auch heute im Bundestag dabei, zeigte sich zumindest äußerlich allerdings nicht sonderlich erfreut über das Gedenken an schwule und lesbische Opfer des Nationalsozialismus.
Der lange Schatten der NS-Zeit
Schümann berichtete dabei von dem schwulen Karl Gorath (1912-2003), der Anfang der 1930er Jahre mit gerade einmal 22 Jahren ebenso nach Paragraf 175 verurteilt worden war. Er überlebte das Konzentrationslager Ausschwitz und suchte viele Jahre lang nach zwei polnischen Männern, mit denen er dort zusammen inhaftiert war und die er nach eigener Aussage liebte. Im Alter von über 70 Jahren entdeckte er die beiden Namen auf einer Totenliste im KZ, bis zum Ende seines Todes im Jahr 2003 lebte Gorath so in dem vermeintlichen Wissen, seine beiden Freunde hatten die NS-Zeit nicht überlebt. Erst 2020 rekonstruierte ein Wissenschaftsteam den Fall und fand heraus, dass beide Polen überlebt hatten. Die Betroffenheit dieser besonders tragischen Note inmitten all des Leides schnürte vielen Politikern sichtbar den Hals zu. Maren Kroymann indes fasste nach ihrem Bericht über die lesbische, im KZ Ravensbrück als “Asoziale“ ermordete Mary Pünjer in einem Satz zusammen, was für viele homosexuelle und queere Opfer jener Tage gilt: "Wie gern hätten wir dir zugehört.“
Wir waren schon einmal weiter
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die das heutige Gedenken im Bundestag erst möglich gemacht hatte, skizzierte in ihrer Rede zu Beginn der Gedenkstunde, wie LGBTI*-Menschen während aber auch nach dem dritten Reich über viele Jahre Opfer von Anfeindungen und Gewalt geworden sind. Aus heutiger Sicht klinge vieles, wie die Verfolgung von homosexuellen Männern durch den Paragrafen 175, unglaublich, so Bas weiter. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre resümierte die Politikern mit einer bitteren Note in der Stimme: "Mir scheint, wir waren schon einmal weiter (…) Das ist eine Schande für unser Land.“