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Kafka: Der Prozess

Kafka: Der Prozess Ein besonderer Theaterabend in Hamburg mit schwulen Anklängen

Gastartikel - 28.01.2025 - 14:00 Uhr
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Kafkas "Der Prozess" am Thalia Theater Hamburg

Eröffnet wird die zweistündige Aufführung mit dem Dream-Pop Song „Questions in a World of Blue“ mit Julee Cruise aus dem Jahre 1990. Die in psychedelisch-buntes Licht getauchte Drehbühne (Paulus Vogt und Henrik Ahr) ist durch vier Wände in leere Räume unterteilt. Der dreißigjährige Prokurist und Protagonist Josef K. (Merlin Sandmeyer) aus Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ (1915) steht völlig nackt im bewegten Farbenmeer und stößt stumme Schreie aus. Als wenn sie gehört wurden, kommen zwei Wächter, Franz und Willem mit Namen (Johannes Hegemann, Falk Rockstroh), und teilen Josef K. mit, dass er verhaftet sei. 

Theater als Alptraumvariante

Der Regisseur Michael Thalheimer weiß natürlich, dass es sich in Kafkas Romanfragment nicht um einen normalen Gerichtsprozess handelt und hat sich für seine Inszenierung für die Alptraumvariante entschieden. Nichtsdestotrotz geht es um Schuld, die entsteht, weil der Mensch sich fortwährend zwischen gut und böse entscheiden muss. Die Schuld ist also in der Existenz selbst verankert. 

Der achtsame Umgang mit ihr - siehe Wächter – ist eine Kreisbewegung um ein Übermächtiges als Mittelpunkt -siehe Gericht – und damit prinzipiell nie endend.  So erfahren wir denn auch vom Maler Titorelli, dass es eine wirkliche Freisprechung praktisch nicht gibt. Die sog. Verschleppung ist eine dauernde Angelegenheit und beim sog. scheinbaren Freispruch folgt auf den Freispruch die nächste Verhaftung. Wie sehr sich Josef K. darüber viele Gedanken macht, wird anscheinend hin und wieder durch ein grieselig wimmelndes Bühnenlicht visualisiert.

Die Instanzen des Gerichts sind bei Kafka bekanntlich undurchschaubar, wie auch deren Bewohner. Es treten auf: ein falschspielender Advokat (Christiane von Poelnitz), ein Student, lüsterne Frauen, Klienten, Nachbarn und Verwandte. Darunter ist, „des würdigen ersten Eindrucks halber“, nur der Gerichtsdiener gut gekleidet. Michaela Barth hat ihn mit einem trotzdem nicht herausragenden Damenrock versehen. Die Ausstattung des übrigen Personals ist, wie man hört, dem Fundus entnommen worden und sehr beliebig.

Schwule Aspekte

Der prospektive schwule Aspekt bei Kafka wird von der Regie nicht aufgegriffen. Die Prüglerepisode wäre als SM-Szene mit Ledermann denkbar gewesen, zumal Kafka dort von der Nacktheit der Passiven und der Lederkleidung des Aktiven spricht. Wer sich im Übrigen mit Kafkas Homosexualität auseinandersetzen möchte, dem sei Günter Meckes Studie „Franz Kafkas offenbares Geheimnis“ von 1982 empfohlen.

Zum Schluss wird es dann noch einmal sehr bewegend und intensiv bei der berühmten Türhütergeschichte „Vor dem Gesetz“. Eindrücklich vorgetragen vom Geistlichen (Marina Galic), beugt sich Josef K. förmlich unter der Last der Wahrheit, bis er zusammengesackt am Boden liegt. Der enorme Körpereinsatz nicht nur hier muss für den für diese Rolle mit einem Preis ausgezeichneten Merlin Sandmeyer eine Tortur sein. Seine Schuld war, nicht den Sprung ins volle, mögliche Leben getan zu haben, nicht ins Gesetz, vor dem der Türhüter stand, eingetreten zu sein. Josef K. ist eine divergente Figur des Scheiterns, ebenso wie Eulenspiegel eine ist, der in dieser Aufführung zweimal durch die Kulissen tanzt. Die „Glatterhaltung des Himmels“, von der Max Brod einmal spricht, ist beiden nicht ganz gelungen.

Ob unter der Last der Erkenntnis oder nicht, Josef K. – jetzt wieder nackt – stirbt wohl eines natürlichen Todes. Franz Kafka hat ein schreckliches, aber auch tröstendes Seelenbild für den Sterbevorgang erfunden. Und Thalheimer übertrumpft Kafka noch, indem er Josef K. nicht erstechen lässt, sondern ihm den Odem nimmt. Die ausführenden Herren handeln allemal nach dem Plan ihres gegebenen Charakters.

Karten und Informationen unter www.thalia-theater.de

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