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Digitale Patienten?
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Digitale Patienten? Kritik und Bedenken aus der LGBTI*-Community bleiben bestehen

ms - 25.08.2023 - 12:00 Uhr

Was bedeutet der Plan einer elektronischen Patientenakte (ePA) für die teils besonders sensiblen Daten von LGBTI*-Menschen oder auch Personen mit HIV? Seit Monaten wird immer wieder über mögliche Risiken diskutiert, auch mehrere LGBTI*-Verbände und Beratungszentren äußerten sich kritisch. Nun liegt ein aktueller Referentenentwurf vor, der bisher allerdings nicht für deutlich mehr Klarheit sorgt.

Weniger Bürokratie, mehr digitale Welt

Konkret geht es dabei um zwei angedachte Gesetze, das sogenannte Digital-Gesetz (DigiG) und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) – im ersten Fall geht es um die Einführung des elektronischen Rezepts sowie der ePA, im zweiten Fall geht es um eine umfassende Digitalisierung von Gesundheitsdaten, um die Bürokratie und organisatorische Hürden abzubauen. Beides sind zwei Herzensprojekte von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Die jüngsten Pläne sehen aktuell vor, dass alle gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten die ePA ab Mitte Januar 2025 zur Verfügung stellen sollen.

Die ePA, ein Flop?

Grundsätzlich gibt es die Möglichkeit bereits jetzt, allerdings auf freiwilliger Basis und mit kaum Resonanz in der Bevölkerung: Zwei Jahre nach der Einführung der ePA im Jahr 2021 haben sich weniger als 600.000 Personen dafür registrieren lassen, das sind weniger als ein Prozent der Versicherten in der Bundesrepublik. Das Ziel von Lauterbach: Bis Ende 2024 soll die Quote bei rund 80 Prozent liegen. Damit dies gelingt, soll jetzt automatisch eine ePA angelegt werden, es sei denn, dass Patienten ausdrücklich bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse widersprechen (das Verfahren nennt sich Opt-out).

Verunsicherung in der Community

Nach wie vor ist die Verunsicherung in diesem Bereich sehr groß, denn viele LGBTI*-Menschen fürchten um die Sicherheit ihrer Daten – zwar sollen besonders sensible Bereiche extra geschützt werden, doch wie und ob das tatsächlich funktioniert, ist nach wie vor offen. Bisher gelten nur Punkte wie eine HIV-Infektion oder psychische Erkrankungen als „besonders sensible Daten“, andere Aspekte wie beispielsweise eine Geschlechtskrankheit offenbar nicht. So könnte mit der Weitergabe der Krankenkassenkarte bei jedem Arzt je nach medizinischer Vorgeschichte auch eine Art von Zwangs-Outing vor den Arzthelfern und dem jeweiligen Arzt erfolgen, wenn die Daten logische Rückschlüsse auf die Sexualität des Patienten geben.

Ebenso fraglich ist, ob manche Ärzte überhaupt Zugriff auf persönliche sensible Daten haben müssen, wenn diese ihren Fachbereich nicht betreffen – ein Orthopäde muss zum Beispiel nicht wissen, dass der Patient vor geraumer Zeit Chlamydien hatte oder die PrEP einnimmt. Auch nach den jüngsten Referentenentwürfen sind hier noch viele Fragen offen und mehrere Verbände erneuerten in letzter Zeit ihre Forderungen, dass Patienten grundsätzlich und individuell entscheiden dürfen, welche Daten welchem Arzt bereitgestellt werden – wie das konkret umsetzbar ist, ist ebenso noch immer fraglich.

Sensible Daten, einsehbar auch vom Betriebsarzt?

Außerdem offen ist auch noch die praktische Handhabe, denn schon jetzt erklärten gerade auch Ärzte von HIV-Schwerpunktpraxen, dass allein das Einpflegen der Daten eine Mammutaufgabe darstellen würde, die im normalen Praxisbetrieb kaum mehr zu stemmen sein dürfte.

Und dann stellt sich nach wie vor auch die Frage nach den Betriebsärzten – dürfen diese Zugriff auf die Daten haben? Das könnte dazu führen, dass Bewerber im Beruf aus homophoben Gründen abgelehnt oder entlassen werden. Auch hier sprechen sich mehrere LGBTI*-Vereine inzwischen für einen generellen Stopp bei der Weitergabe der Daten an Betriebsärzte auch. Auch darauf gibt es noch keine zufriedenstellende Antwort seitens des Gesundheitsministeriums.

Krankendaten zu Forschungszwecken?

Ein weiteres großes Fragezeichen gibt es bei der sogenannten „automatischen Auswertung“, so sollen Kranken- und Pflegekassen künftig die pauschale Befugnis erhalten, auch ohne Einwilligung der Patienten zum „individuellen Gesundheitsschutz“ die ePA ihrer Mitglieder auswerten zu dürfen. Wie das passieren soll und vor allem durch welche Serviceanbieter, sind weitere offene Punkte, die die Besorgnis gerade in der LGBTI*-Community weiter befeuern.

Des Weiteren sollen die Daten auch zu „Forschungszwecken“ verwendet werden – auch hier ein weites Feld mit hohem Missbrauchspotenzial. Kritik kommt auch von der Kassenärzt­lichen Bundesvereinigung, sie spricht von einer „Screening-Maßnahme mit unklarem Nutzen.“

Wenig Gegenliebe bei LGBTI*-Menschen

im Interview mit SCHWULISSIMO hatte im Frühjahr dieses Jahres bereits Christoph Weber, Internist und Infektiologe beim Checkpoint Berlin, eine der zentralen Anlaufstellen für die sexuelle Gesundheit von schwulen Männern, erklärt: „Ich denke, die Regelungen wer, wie und was überhaupt gesammelt und erhoben werden soll, und warum, sind noch nicht besonders gut ausgehandelt und dennoch sollen die Menschen bereit sein, gegebenenfalls auch sehr intime Details für big data medicine freizugeben. Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht auf große Gegenliebe in der LGBTI*-Community führen wird.“ An dieser Einschätzung scheint sich auch einige Monate später mit Blick auf die Referentenentwürfe nicht viel geändert zu haben.

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