Zensur in der Türkei Nationale und rechte Gruppen diffamieren LGBTI*-Kreative als "moralisch verwahrlost"
Zuletzt sorgte die Türkei erst im Juni diese Jahres für Negativ-Schlagzeilen, nachdem in Istanbul abermals eine Pride-Demonstration brutal von Polizisten beendet und Teilnehmer festgenommen worden waren. Nun zeigt sich, dass die türkische Regierung auch landesweit an anderer Stelle versucht, Homosexuelle und queere Menschen immer mehr in die Unsichtbarkeit zu drängen. Immer öfter ist ganz offen im Kulturbetrieb inzwischen die Rede von Zensur.
LGBTI*-Künstler seien „sittenlos“
Dabei sollen Konzerte und Festivals mit stark steigender Tendenz abgesetzt werden, wenn dabei LGBTI*-Künstler auftreten sollen. Im Hintergrund agieren dabei offensichtlich vor allem islamistische und nationalistische Gruppen, die immer wieder zum Sturm auf die kreative Szene aufrufen. Zuletzt wurde so der Auftritt der bekannten Popsängerin Hande Yener bei einem Festival in der türkischen Provinz Balikesir abgesagt, weil Yener „sittenlos“ sei. Der eigentliche Grund: Die 50-jährige Künstlerin unterstützt offen die LGBTI*-Community in der Türkei.
Indirekte Auftrittsverbote für LGBTI*-Kreative
Mit immer radikaleren Mitteln wird dabei offenbar auch versucht, nicht nur einzelne Künstler zu canceln, sondern ganze Festivals zu verhindern, die diesen möglicherweise eine Bühne bieten könnten – das kommt indirekt einem Auftrittsverbot gleich und stellt viele Festivalbetreiber vor die quälende Frage, wie sie in dieser Lage im Ernstfall reagieren wollen. Immer mehr Verbände auch aus der ultranationalen Ecke schließen sich diesen Zensurwünschen an, beim Festival in Balikesir forderten bereits 26 Vereine die Absetzung.
Nach Angaben der Kunstplattform SÖZ haben die Angriffe auf LGBTI*-Künstler seit Beginn dieses Jahres immer mehr zugenommen, allein in der ersten Jahreshälfte wurden bereits 27 Künstler Opfer von Hetzkampagnen und direkten Drohungen gegen ihre Person. Rund 15 Veranstaltungen wurden ganz untersagt, zudem laufen derzeit 37 Ermittlungsverfahren gegen LGBTI*-Künstler sowie deren Unterstützer.
Angriffe konzentrieren sich auf LGBTI*
Die Herangehensweise ist dem Verhalten beim Pride in Istanbul ähnlich – stets aufgrund von Sicherheitsbedenken werden plötzlich kurzfristig seitens der zuständigen Bürgermeister oder Gouverneure Veranstaltungen abgesagt. Betroffen sind dabei fast immer jene Städte, die von der Regierungspartei AKP verwaltet werden. Bisher fand eine solche Form von Zensur zumeist nur im Umkreis von kurdischen Veranstaltungen statt, nun konzentrieren sich die Angriffe offenbar immer mehr auf die LGBTI*-Community.
„Moralische Verwahrlosung“ bei LGBTI*-Künstlern
Dabei reicht es den Drahtziehern anscheinend nicht mehr, nur die Veranstaltungen selbst zu canceln, sondern sie konzentrieren sich auch in einem nächsten Schritt auf die Diffamierung der Künstler und erfinden Geschichten von „moralischer Verwahrlosung“ der Betroffenen, die das türkische Familienbild bedrohen würden.
Gegenüber der Deutschen Welle erklärt die Politikwissenschaftlerin von der Universität Maltepe, Cangül Örnek, sie befürchtet eine voranschreitende kulturelle Ghettoisierung in der Türkei. Insbesondere junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Schichten könnten so immer schwieriger zusammenkommen und sich austauschen. Das türkische Regime habe sich dabei inzwischen weit von der Rechtsstaatlichkeit entfernt, bestimmte Gruppen hätten derweil die staatlichen Institutionen unterwandert und die türkische Regierung arbeite nur noch wie eine Koalition muslimischer Bruderschaften.