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Was kommt nach Boris Johnson?
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Was kommt nach Boris Johnson? Wie denken mögliche Kandidaten für das Amt des britischen Premierministers über die LGBTI*-Community?

ms - 07.07.2022 - 11:15 Uhr

Boris Johnson hat es nicht leicht in diesen Tagen – einmal mehr fordern britische Politiker, teils auch aus den eigenen Reihen, dass der Brite mit den wilden blonden Haaren nun endlich vom Posten des Premierministers zurücktreten möge. Zuletzt traten nun auch mehrere Kabinettsmitglieder in einer koordinierten Aktion zurück, um ihrer Forderung nach Neuwahlen oder zumindest einer Neu-Besetzung des Postens in der Downing Street 10 Nachdruck zu verleihen – darunter auch der ranghöchste schwule Tory-Politiker, Wohnungsbauminister Stuart Andrew. Er erklärte: "Unsere Partei, vor allem unsere Mitglieder und, was noch wichtiger ist, unser großartiges Land haben etwas Besseres verdient."

Bisher war es Johnson immer wieder gelungen, Forderungen nach seinem Rücktritt auszusitzen und so erklärte er auch zu den jüngsten Negativ-Schlagzeilen, dass ein Premierminister solche Kritik aushalten müsse und es der Job verlange, sich nicht wegzuducken, sondern auch bei Gegenwind im Sinne des Landes weiter zu arbeiten. Für die meisten britischen Zeitungen ist Johnson bereits angezählt, doch es ist nicht das erste Mal, dass dies verkündet wurde. Ein Misstrauensvotum in der eigenen Partei überlebte Johnson erst kürzlich, wenn auch mit knapper Stimmenmehrheit.

Immer wieder in der Kritik ist sein Führungsstil. Für Teile der britischen LGBTI*-Community ist Johnson spätestens auch seit seiner Verlautbarung in puncto Konversionstherapie-Verbot zur Persona non grata geworden. Johnson hatte im Frühjahr erklärt, dass er Schwule, Lesben und Bisexuelle vor den unseriösen Heilungsangeboten schützen wolle, bei trans-Personen bedürfe es aber zuvor noch diverser rechtlicher Abklärungen, beispielsweise der Frage, ob Ärzte oder Therapeuten in diesem Falle dann überhaupt noch eine Selbstdiagnose einer Person hinterfragen oder überprüfen dürften, ohne sich im Sinne eines möglichen Konversionsverbotes strafbar zu machen. Die LGBTI*-Community reagierte verärgert, mehrere hundert Aktivisten skandierten vor dem Amtssitz von Johnson und forderten seinen Rücktritt.

Die heikle Frage ist dabei: Was kommt dann? Wenn Boris Johnson wirklich seinen Hut nimmt, was bedeutet das für die LGBTI*-Community? Zu den Spitzenkandidaten seiner Partei, die ihm nachfolgen könnten, gehören unter anderem Liz Truss, Dominic Raab, Jeremy Hunt, Ben Wallace, Penny Mordaunt und Sajid Javid. Bei den meisten der Kandidaten möchte man der LGBTI*-Community und speziell den trans-Aktivisten sagen: Habet Acht davor, was ihr euch wünscht. Die heiße Kandidatin Truss beispielsweise hat Reformen des Geschlechtsanerkennungsgesetzes verhindert, was gerade die trans-Community stark verärgert hat, die derzeit besonders laut nach Johnsons Rücktritt ruft. Auch Dominic Raab und Sajid Javid positionierten sich klar gegen weitere Rechte für trans-Personen. Im Allgemeinen dagegen befürworteten sowohl Truss wie auch Raab und Javid die Rechte von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, wie die Website TheyWorkForYou.com unter Rücksichtnahme ihrer bisherigen Abstimmungsverhalten bekräftigte.

Auch die Frage, ob es bei einem Personalwechsel an der Spitze der britischen Regierung überhaupt noch zu einem Verbot von Konversionstherapien kommt – auch für Homosexuelle – ist sehr fraglich. Während Johnson sich nach einigem Hin und Her für ein Verbot zur Stärkung der LGB-Community ausgesprochen hat, sehen das nicht gerade wenige Politiker der Konservativen Partei durchaus kritisch. Mit Johnson könnte also auch das Verbot von Konversionstherapien ganz unter den Tisch fallen. Noch düsterer sieht es bei Kandidaten wie Ben Wallace aus - er ist der einzige prominente Tory, der einst gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt und sich auch gegen den Equality Act ausgesprochen hat.

Ein wankelmütiger Kandidat ist Jeremy Hunt, der bei der Wahl zum Parteivorsitz 2019 hinter Johnson den zweiten Platz belegte. Mitglieder seiner Partei erklärten einst, Hunt sei in puncto LGBTI* auf einer “Reise des Verständnisses“ – wie weit er bei dieser Wanderung bereits gedanklich gekommen ist, ist ungewiss. Allerdings hat sich Hunt bereits einmal für eine LGBTI*-integrative Bildung an Schulen und allgemein für mehr Rechte für LGBTI* ausgesprochen.

 Aus Sicht der britischen LGBTI*-Community wäre Penny Mordaunt wahrscheinlich die beste Kandidatin – sie gilt als eine der progressivsten Torys, wenn es um LGBTI*-Rechte geht. Die britische LGBTI*-Aktivistin Jayne Ozanne erklärte dazu: "Sie hat gezeigt, dass sie sich voll und ganz für die LGBTI*-Community einsetzt und ihre Versprechen stets einhält. Sie ist eine sehr integre und prinzipientreue Frau, die das Vertrauen und den Respekt der Abgeordneten im ganzen Haus gewonnen hat. Wie viele andere war auch ich überrascht, dass ihr keine prominentere Rolle in dieser Regierung zugestanden wurde, obwohl das natürlich auch daran liegen könnte, dass sie als Bedrohung empfunden wurde. Ihre Führung würde die Partei zweifellos wieder in die Mitte bringen und, davon bin ich überzeugt, ein besseres und integrativeres Großbritannien aufbauen."

Wer am Ende das Rennen macht, sollte Johnson doch noch zurücktreten oder seine Partei durch eine Änderung der parteiinternen Richtlinien doch ein zweites Misstrauensvotum in die Wege leiten, ist vollkommen ungewiss. Als Johnson gestern das britische Unterhaus verließ, rief ihm der Oppositionsführer Keir Starmer nach: "Ist dies der erste bestätigte Fall, in dem das sinkende Schiff eine Ratte verlässt?" Die LGBTI*-Community muss sich indes in einem stillen Moment selbst befragen, ob nach der “Ratte Johnson“ nicht ein deutlich schlimmeres Beutetier in die Downing Street 10 einziehen könnte.

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