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Demonstranten protestieren heute in Berlin
Rubrik

Streitfall um trans- und Frauenrechte Was darf künftig noch gesagt werden? Der Fall einer Feministin aus Norwegen spaltet die LGBTI*-Community

ms - 30.06.2022 - 08:30 Uhr

Zeitgleich während Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesjustizminister Marco Buschmann heute erste Details zum finalen Gesetzentwurf des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes vorstellen, demonstrieren Frauen, Feministinnen, Schwule und Lesben in Berlin vor der norwegischen Botschaft im Rahmen der Initiative “Lasst Frauen sprechen! Let Women speak!“. Hintergrund ist der Fall der norwegischen Feministin Christina Ellingsen – der Menschen- und Frauenrechtsaktivistin drohen aktuell bis zu drei Jahre Haft, weil sie sich kritisch zum Thema Geschlecht und Geschlechtsidentität geäußert hatte. Ähnlich wie in Deutschland geplant (mit einer Ordnungsstrafe von 2.500 Euro) drohen Ellingsen in ihrer Heimat deswegen juristische Konsequenzen.  

Angezeigt wurde Christina Ellingsen von der lesbischen trans-Frau Christine Marie Jentoft von der trans-Organisation Foreningen (FRI). Grund für die Anzeige sind zwei Tweets, die Ellingsen auf ihrem Twitter-Account veröffentlicht hatte. Sie lauten: „Warum lehrt die FRI junge Menschen, dass Männer lesbisch sein können? Ist das nicht eine Konversionstherapie?“ sowie „Jentoft, ein männlicher Berater der FRI, gibt sich als lesbisch aus – so verrückt ist die Organisation, die sich angeblich für die Interessen junger Lesben einsetzt. Wie hilft es jungen Lesben, wenn auch Männer behaupten, lesbisch zu sein?“ Nach Angaben der Kläger erfüllen die beiden Nachrichten die Grundlage eines Hassverbrechens gegen die Geschlechtsidentität von Jentoft – seit Januar 2021 gibt es in Norwegen ein Gesetz gegen Hassverbrechen, das die empfundene Geschlechtsidentität einer Person unter besonderen Schutz stellt.

Der Präzedenzfall ist für Norwegen auch deswegen von besonderer Brisanz, weil die angeklagte Feministin Ellingsen im Vorfeld genau davor gewarnt hatte, dass die Meinungsfreiheit durch das neue Gesetz eingeschränkt und Frauen dadurch nicht mehr geschützt werden würden. Bereits seit dem Jahr 2016 gibt es die sogenannte Self-ID, also die Möglichkeit, via Sprechakt sein Geschlecht beim Standesamt frei definieren zu dürfen. In Norwegen ist dies ab dem Alter von 6 Jahren möglich, die Ampel-Koalition in Deutschland plant die Möglichkeit zur Personenstandsänderung eigenverantwortlich ab dem 12. Lebensjahr. Die trans-Frau Jentoft und die Feministin Ellingsen sind dabei bereits in der Vergangenheit mehrfach in Streit geraten. Im Jahr 2018 hatte Jentoft beispielsweise online geschrieben, dass viele queere Kinder von ihren Eltern nicht mehr geliebt werden würden und erklärte: “Ich bin tatsächlich eine zertifizierte Mutter. Wenn also jemand eine echte mütterliche Umarmung braucht, werde ich euch gerne helfen!“ Ellingsen hatte in einer Talkshow dazu erwidert: „Sie sind ein Mann. Sie können keine Mutter sein! Die Vorstellung zu normalisieren, dass Männer Mütter sein können, ist eine Diskriminierung von Frauen.“

Hinter der heute demonstrierenden Initiative steckt nach Selbstauskunft ein breites Bündnis von mehreren feministischen Gruppen und Organisationen sowie auch von Lesben, Schwulen und heterosexuellen Befürwortern, die Solidarität mit Ellingsen zeigen wollen und in einem offenen Brief an den norwegischen Botschafter Torgeir Larssen fordern, dass die polizeilichen Ermittlungen sofort eingestellt und die “Beseitigung des frauenfeindlichen Konzeptes einer Geschlechtsidentität aus Gesetzen zu Hasskriminalitätsbekämpfung“ eingeleitet wird. Des Weiteren bekräftigt die Initiative, dass der Verpflichtung aller UN-Staaten, die Rechte der Frau zu schützen, mit dem neuen Gesetz zur Hasskriminalität so nicht weiter nachgegangen werden könne, wenn „das objektiv feststellbare Kriterium Geschlecht durch einen subjektiven Glauben an eine Geschlechtsidentität ausgetauscht oder ergänzt wird.“ Dabei beziehen sich die Initiatoren auf eine Besonderheit im norwegischen Diskriminierungsschutz: Frauen gelten in Norwegen nicht als diskriminiert, weil sie keine Minderheit sind, sondern die Hälfte der Bevölkerung stellen. Trans-Personen dagegen gehören einer vulnerablen Minderheit an und stehen daher unter dem besonderen Schutz der Regierung.

Die Initiatoren schreiben dazu weiter: „Keine gefühlte Identität kann materielle Wirklichkeit verändern. Zu glauben, eine Geschlechtsidentität kann das Geschlecht eines Menschen verändern – einen Mann zur Mutter oder Lesbe machen – ist magisches Denken oder zynisches Negieren der Lebensrealität von Frauen. Wie sollen homo- und bisexuelle Frauen geschützt werden, wenn diese per Gesetz gezwungen werden, Männer als Frauen anzuerkennen? (…) Frauen auf der ganzen Welt erfahren geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt. Aus diesem Grund sollten Frauen sich wehren können. Frauen sollten die Vorstellungen der Männer, wie eine Frau zu sein hat, anprangern dürfen. Sie dürfen nicht gezwungen werden, sich dem subjektiven Glauben von Männern zu unterwerfen. Sie müssen eine Sprache verwenden dürfen, die den körperlich-materiellen Gegebenheiten entspricht. Dies unter Strafe zu stellen, bedeutet unbequemen Frauen einen Maulkorb zu verpassen. Es untergräbt unsere geschlechtsbedingten Frauenrechte und erschüttert die Grundpfeiler der Demokratie!“

Ellingsen erklärte zuletzt in einem Interview, dass der gesamte Fall juristisch gesehen Neuland für Norwegen sei, daher ist es aktuell vollkommen offen, ob die aktuellen Ermittlungen zu einer Anklage vor Gericht führen oder nicht. Die Feministin bekräftigte, dass sie juristisch solange kämpfen wolle, bis Norwegen die Geschlechtsidentität aus den Gesetzen zum Diskriminierungsschutz und gegen Hassverbrechen streicht. Der Streit um die Frage, was künftig gesagt werden darf und was nicht – sowohl in Norwegen wie bald auch in Deutschland – spaltet aktuell auch die LGBTI*-Community. Es gibt derzeit sowohl Befürworter wie Kritiker bei dieser Frage. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, erklärte, dass es beim neuen Selbstbestimmungsgesetz um eine reine Personenstandsänderung gehe, die die Rechte von queeren Menschen stärken würde. Die LGBTI*-Community sollte sich solidarisch zeigen – ähnliches forderte auch vor wenigen Tagen der Lesben- und Schwulenverband Deutschland.  

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