Sexuelle Gewalt Ein großes Problem, ein noch größeres Tabu – bis heute
Es ist bis heute ein Thema, über das nur ungern gesprochen wird: Sexualisierte Gewalt gegenüber jungen Homosexuellen. Im Sommer dieses Jahres hatte die Ampel-Regierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, dessen Ziel es ist, Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Jugendlichen zu stärken.
Besorgniserregende Fakten
Gerade junge Homosexuelle und queere Jugendliche sollen dabei besser geschützt werden, wie der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, betonte: „Die wenigen gesicherten Erkenntnisse zu den Erfahrungen von LSBTIQ*-Jugendlichen mit sexualisierter Gewalt sind besorgniserregend. So weisen Studien darauf hin, dass die sexuelle Orientierung ein zentraler Risikofaktor für die Erfahrung körperlich sexualisierter Gewalt ist. Lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche haben ein größeres Risiko von körperlicher sexualisierter Gewalt betroffen zu sein.“
Lehmann stützt seine Aussagen unter anderem auf die jüngste BZgA-Studie „Jugendsexualität“, die eine überdurchschnittlich starke Betroffenheit von sexualisierter Gewalt bei nicht-heterosexuellen Jugendlichen aufweist, insbesondere bei schwulen Jugendlichen und jungen schwulen Männern, die doppelt so oft davon betroffen sind im Vergleich zu heterosexuellen Gleichaltrigen. Dabei unterscheiden die Untersuchungen zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Gewalt – letzteres sind beispielsweise Mobbing und Beleidigungen oder Vergewaltigungsandrohungen, die vor allem schwule Jugendliche über sich ergehen lassen müssen.
Ein großes Problem - ohne Lobby
Laut der BZgA-Studie sind 52 Prozent von ihnen davon betroffen, bei den Mädchen sind es „nur“ 38 Prozent. Sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt erlebten elf Prozent der schwulen und bisexuellen Jungen und jungen Männer, bei den heterosexuellen Gleichaltrigen sind es gerade einmal fünf Prozent. Auch die Studie „Coming-out und dann“ vom Deutschen Jugendinstitut stellte fest, dass jeder dritte LGBTI*-Jugendliche aufgrund der sexuellen Orientierung belästigt worden ist. Rund 36 Prozent der jungen Homosexuellen haben daher auch gerechtfertigt Angst davor, nach einem Coming-Out sexuelle Belästigungen oder Beleidigungen erleben zu müssen.
Ein besonderes Problemfeld ist dabei der Sport – gerade in diesem Umfeld vom Sport-Unterricht bis hin zu Sportvereinen kommt es immer wieder vor, dass junge Homosexuelle sexuell belästigt werden. Die jüngste Studie „Safe Sport. Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland“ aus dem Jahr 2022 zeigte auf: 48 Prozent der nicht-heterosexuellen Befragten haben Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt ohne Körperkontakt gemacht, rund jeder dritte Homosexuelle (32%) erlebte im Umfeld von Sport sogar sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Das eine sind die Fakten, das andere die persönlichen Erlebnisse. Was macht das mit jungen schwulen Jugendlichen, wenn sie verbal oder sogar körperlich angegriffen werden? SCHWULISSIMO fragte nach bei Andreas (19), der in Bayern zur Schule ging und inzwischen in Hamburg lebt.
Andreas, wie geht es dir heute?
Danke der Nachfrage, mir geht es soweit gut. Mein Umzug nach Hamburg vor einem Jahr hat mir in mehrfacher Hinsicht gut getan. Die räumliche Trennung hat dazu beigetragen, dass ich tatsächlich auch emotional etwas mehr auf Abstand gegangen bin. Außerdem habe ich hier in Hamburg seit kurzem eine sehr einfühlsame Therapeutin, die mir wirklich gut tut. Und mein Job macht mir auch Spaß.
Magst Du uns erzählen, was Du in den letzten Jahren erlebt hast?
Bei mir fing das im Gymnasium an, ich würde sagen, da war ich 15 Jahre alt oder so. Es gibt da diese dämlichen Spiele, woran man angeblich erkennt, ob jemand schwul ist oder nicht, zum Beispiel beim Fingernägel ansehen. Heteros beugen demnach die Finger in die Handinnenfläche und gucken drauf, Homos strecken die Finger weit von sich – ich tat letzteres, ohne zu wissen, was das bedeuten soll. Spätestens danach war ich offiziell „die Schwuchtel“ an der Schule, auch wenn ich mich nie wirklich geoutet habe. Die Einschätzung meiner Mitschüler stimmte sogar, aber das war mir damals selbst noch gar nicht bewusst. Erst mit 16 Jahren war mir irgendwann wirklich klar, dass ich tatsächlich nur Jungs erotisch anziehend finde. Ich glaube, ich war einfach ein beliebtes Opfer, ich sah normal aus, war aber etwas schüchtern, das hat offenbar ausgereicht.
Was ist dann passiert?
Im Grunde wurde ich beinahe täglich beschimpft, gerne auch mit Zettelchen an meinem Sitzplatz. Dazu kamen auch Schmierereien auf der Toilette, auf denen mein Name zu lesen war und daneben ein Penis aufgemalt war, der in ein Hinterteil spritzt. Einige Jungs hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mich nur noch als „Homo“ oder „Schwuchtel“ anzusprechen. Ich ging in einem Internat zur Schule, war aber nur tagsüber dort, also Externer. Die internen Schüler, die dort auch lebten, waren ne eingeschworene Gemeinschaft und ich ihr Lieblingsangriffsziel.
Haben denn Lehrer nichts dagegen gemacht?
Ich glaube, einige Lehrer haben das gar nicht mitbekommen, Mitschüler wissen durchaus, wie man das macht, ohne dass der Lehrer das checkt. Anderen war das vielleicht auch einfach egal, die wollten einfach keinen Stress. Und ich denke der ein oder andere Lehrer fand das sogar insgeheim gut, dass „die Schwuchtel“ angegangen wird. Wir hatten einige alte Lehrkräfte, die eigentlich längst in Rente hätten sein müssen, aber aus Lehrermangel immer noch arbeiteten.
Gab es keinen LGBTI*-Ansprechpartner an der Schule? Oder einen Verein in der Region, der hätte helfen können?
Der nächste Beratungsverein für Schwule war, glaube ich, rund 80 Kilometer weit weg in München. Und Ansprechpartner für Homosexuelle gab es nicht, es gab nur eine ältere Lehrerin, an die man sich generell beim Thema Mobbing hätte wenden können. Das wollte ich aber nicht. Die war damals Biologielehrerin und hatte im Sexualkundeunterricht wirklich Probleme, überhaupt über Homosexualität zu berichten. Ich hatte da kein gutes Gefühl, vor der wollte ich mich definitiv nicht outen.
In deinem Fall blieb es aber nicht bei verbalen Attacken.
Ja, die Attacken und Beleidigungen nahmen zu, zweimal wurden sie auch körperlich. Das erste Mal war nach dem Sportunterricht in der Umkleide, der Sportlehrer war schon weg und fünf Jungs fingen an, mich anzugehen. Ich war nicht schnell genug mit den anderen Schülern rausgekommen, ich weiß ehrlich gesagt heute auch nicht mehr, wieso. Einer der Jungs duschte und war nackt, dann kam er zu mir, wedelte erst mit seinem Penis vor meinem Gesicht herum und sagte immer wieder „Das ist es doch, was du willst, du Schwanzlutscher“. Die anderen Jungs stimmten darin ein. Das Ganze schaukelte sich weiter hoch, schlussendlich hielten die Anderen mich am Boden fest, der nackte Junge klatschte mir seinen Penis gegen mein Gesicht. Dann drehten sie mich um und der Junge tat so, als wolle er in mich eindringen. Er hat es nicht getan, schlussendlich ließen sie mich am Boden zurück und lachten mich aus. Tatsächlich passiert ist also nichts.
So würde ich das nicht sagen.
Ja, stimmt schon, aber ich meine, ich hatte keinen erzwungen Sex, wenngleich nicht viel dazu gefehlt hat. Das zweite Mal geschah dann bei der Skiwoche, da fährt die ganze Klasse für ein paare Tage zum Skifahren in die Berge. An einem Abend sah der Aufsichtslehrer nicht so genau hin und unter den Jungs ging irgendeine Flasche mit Alkohol rum. Das waren Mehrbettzimmer, in denen wir schliefen, in meinem Zimmer waren wir zu sechst. Spät in der Nacht fanden es die Kerle toll, mich aufs Bett zu drücken und erneut so zu tun, als würden sie Analsex mit mir haben. Die Decke war aber dazwischen. Ich glaube allerdings, dass einer oder mehrere von ihnen dabei auf die Decke gekommen sind.
Warum hast Du das nicht den Lehrern gemeldet? Oder deinen Eltern? Oder der Polizei?
Ich hatte wahnsinnig viel Angst und Panik. Ich wusste ja selbst noch nicht so genau, ob ich wirklich schwul bin, alle anderen schienen es vor mir zu wissen. Damals dachte ich, ich wäre auch irgendwie selbst schuld, ich hätte das irgendwie provoziert oder so. Und ich wollte es auch in der Schule nicht an die große Glocke hängen, ich wollte nur meine Ruhe haben. Am Ende ist ja auch nichts passiert, also so richtig, verstehst du? Und meine Eltern? Die sind sehr konservativ und gläubige Menschen. Ich bin der jüngste von drei Brüdern und war immer so das Sorgenkind. Ich glaube, zum einen wollte ich ihnen keinen weiteren Kummer machen, zum anderen glaube ich, sie würden meine Homosexualität falsch finden. Am Ende würden sie wahrscheinlich sogar sagen, ich hätte mir das selbst eingebrockt. Ich hätte mich ja auch wehren können oder sollen. Sie wissen bis heute nicht, dass ich schwul bin.
Hast Du es inzwischen den irgendjemandem sagen können?
Ja, meiner Therapeutin. Und meinem besten schwulen Freund. Ich will das nicht kleinreden, was mir passiert ist, aber ich glaube, es ist fast Alltag für viele schwule Jungs in der Schule, vielleicht besonders noch einmal in Internaten. Keine Ahnung. Ich bin nicht vergewaltigt worden, mein Schaden ist sozusagen nur emotionaler Natur. Und das, denke ich, kann ich mit meiner Therapeutin gut aufarbeiten. Ich glaube, dass, was ich erlebt habe, erleben viele junge Schwule in der ein oder anderen Art. An der Schule sind vermeintliche Schwule immer noch die beliebtesten Opfer.
Wie ging es in der Schule dann weiter für dich?
Ich bin nach dem Erreichen der mittleren Reife vorzeitig dann weg, habe die Schule ohne Abitur verlassen. Das fanden meine Eltern nicht toll, aber ich bin ja sowieso das Sorgenkind. Ich habe dann ein Jahr freiwillig einen sozialen Dienst gemacht, das hat mir irre viel Spaß gemacht und die Leute dort konnten mir daraufhin einen Ausbildungsplatz in Hamburg vermitteln – und das ist wirklich toll und macht mir große Freude.
Bist Du bei deinem Arbeitgeber geoutet?
Ja, bin ich, ich gehe heute offen damit um. Ich habe vor der Einstellung beim Bewerbungsgespräch gesagt, ob ihnen klar ist, dass sie einen Homosexuellen einstellen. Das war zum Glück kein Problem. Hamburg tut mir sehr gut.
Und bist Du ab und zu noch zu Besuch in Bayern?
Bisher nicht. Weihnachten werde ich wohl für ein paar Tage wieder runterfahren, aber ansonsten, nein. Irgendwie verbinde ich mit meiner alten Heimat vor allem Negatives. Das will ich mir nicht öfter antun, als unbedingt nötig. Aber wenn ich an mein altes Zuhause denke, wird mir andererseits klar, wie besonders es ist, offen schwul leben zu können, ohne angefeindet zu werden, auch im Jahr 2024, auch mitten in Deutschland. Ich weiß, dass das noch immer nicht selbstverständlich ist und deswegen bin ich umso mehr dankbar für mein Leben heute.
Andreas, vielen Dank für das Interview und alles Gute dir! (ms)
Wenn Du ähnliche Erfahrungen gemacht hast oder Hilfe brauchst, melde dich gerne beim Coming Out Verein via Messenger oder E-Mail unter www.coming-out-day.de. Eine weitere Anlaufstelle ist das Hilfe-Telefon „Sexueller Missbrauch“, erreichbar unter: 0800/22 55 530.