MPX-Angst in der Gay-Community Wie ist die Gefahrenlage für Deutschland wirklich? Deutsche Aidshilfe über die aktuelle Situation.
Das Robert-Koch-Institut verzeichnet aktuell heute mehr als 2.840 Fälle von Affenpocken in Deutschland, Tendenz weiter steigend. Nach wie vor ist Berlin das Epizentrum der Virusinfektion, nach wie vor sind beinahe ausschließlich schwule und bisexuelle Männer betroffen, nach wie vor stecken sich die allermeisten davon bei sexuellen Kontakten an. Während einige Männer in der Gay-Community sehr unbedarft mit der Situation umgehen und weiterhin viele wechselnde sexuelle Kontakte haben, erleben andere Männer Angst und eine große Unsicherheit. Immer wieder erinnern einzelne Aspekte von der Stigmatisierung bis hin zum anscheinend weniger priorisierten politischen Interesse an der Erkrankung, die hauptsächlich Homosexuelle betrifft, an die Ausbreitung des HI-Virus.
Beide Virusinfektionen lassen sich nicht direkt vergleichen, doch zeichnen sich im aktuellen Umgang mit MPX durchaus Parallelen ab. Befeuert wurde das Unbehagen in diesen Tagen noch durch die ersten Todesfälle außerhalb Afrikas im Zusammenhang mit den Affenpocken. Die ersten Opfer waren bisher in Spanien, Brasilien und Indien zu verzeichnen. Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis auch Deutschland einen ersten MPX-Todesfall zu vermelden hat? SCHWULISSIMO fragte nach bei Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe (DAH), der uns direkt aus Montreal nach dem Abschluss der Welt-Aids-Konferenz Rede und Antwort stand – auch dort vor Ort waren die Affenpocken ein großes Thema und eindringlich wurde an die Weltengemeinschaft appelliert, nicht die gleichen Fehler zu machen im Umgang mit der Virusinfektion wie zuvor bei HIV oder Corona.
Wie hoch schätzt die DAH generell die Gefahr für schwule und bisexuelle Männer ein, dass Krankheitsverläufe in manchen Fällen – beispielsweise aber nicht ausschließlich bei Menschen mit HIV – tödlich verlaufen können?
Wichtig ist: Es handelte sich um Menschen mit gravierenden Vorerkrankungen. Natürlich können solche Fälle auch in Deutschland passieren. Es sind aber sehr seltene Einzelfälle, bei den allermeisten Menschen heilen die Affenpocken von alleine aus.
Deutschland ist einer der Hotspots in puncto Affenpocken in ganz Europa, besonders betroffen noch einmal ist Berlin mit mehr als 1.400 Fällen aktuell. Rechnet die DAH in diesem Zusammenhang auch mit möglichen Todesfällen in Deutschland?
Natürlich kann es auch hierzulande zu solchen Fällen kommen. Deutschland ist nach Spanien das Land mit den zweithöchsten Infektionszahlen. Etwa die Hälfte der Infektionen tritt zurzeit in Berlin auf, aber die anderen Bundesländer holen teilweise auf, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen. Aber noch mal: Todesfälle sind äußerst selten und bisher nur bei Menschen mit schweren Vorerkrankungen aufgetreten.
Die DAH hat zuletzt mindestens eine Million Impfdosen für Deutschland gefordert. Eine mit Sicherheit richtige Forderung, aber trotzdem die Frage: Wie realistisch sind aktuell diese Forderungen? Bis jetzt wird immer wieder von Seiten der Regierung und der Pharmaindustrie erklärt, so schnell würde sich die Produktion des Impfstoffes nicht ankurbeln lassen können.
Da sollte man direkt beim Bundesgesundheitsministerium nachfragen. Es geht jetzt darum, Wege auszuloten, wie mehr Impfstoff produziert werden kann. Technisch dürfte das möglich sein. Warum keine Produktion in Lizenz? Wir werden weltweit noch viel mehr Impfstoff benötigen als jetzt zur Verfügung steht, nicht nur in Deutschland. Und es darf nicht dazu kommen, dass ärmere Länder das Nachsehen haben. Die Politik steht in der Verantwortung, hier Lösungen zu schaffen.
Es herrscht derzeit eine seltsame emotionale Lage in der Gay-Community: Einige Männer gehen sehr leichtfertig an MPX heran, andere haben sehr große Angst vor Ansteckung. Der Impfwille ist nach ersten Aussagen von Praxen und Kliniken sehr hoch. Wie können wir vernünftig, ohne panisch oder leichtfertig zu werden, mit der Situation umgehen?
Wir sehen vor allem, dass Menschen sich Sorgen machen und versuchen, sich einzuschränken und zudem versuchen, eine Impfung zu bekommen. Panik ist nie ein guter Ratgeber, Informationen und Gespräche sind immer gut. Menschen zu beschuldigen oder wegen ihres Verhaltens abzuwerten ist schädlich. Letztlich geht es darum, dass jeder Mensch individuell für sich entscheidet, wie er mit der aktuellen Situation und dem persönlichen Risiko umgehen möchte. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Risiken zu reduzieren: die Impfung, die Reduzierung der sexuellen Kontakte oder die Verwendung von Kondomen, um zumindest schmerzhafte Folgen im Anal- und Genitalbereich zu verhindern, gehören dazu. Wir raten allen: Macht euch schlau, zum Beispiel auf unseren Webseiten, redet miteinander und lasst uns die Affenpocken als ein Problem betrachten, mit dem wir gemeinsam einen guten Umgang finden müssen.
Mehrfach wurde die Kritik laut, dass die Bundesregierung oder auch einzelne Landesregierungen wie Berlin (Impfverzögerung trotz vorhandener Einheiten) nicht ausreichend professionell genug an die Gefahrensituation herangehen, vielleicht auch, so die Kritik, weil es sich bei den Infizierten bisher beinahe ausschließlich um schwule und bisexuelle Männer handelt. Wie bewertet das die DAH?
Das Bundesgesundheitsministerium hat anfangs einen sehr guten Job gemacht, als es schnell 240.000 Dosen Impfstoff bestellt hat. Bei der Verteilung hatten wir Kritik, Berlin als Hotspot hat zum Beispiel zu wenig Impfstoff bekommen – ein Fünftel, obwohl dort zwei Drittel der Infektionen stattfanden. In den Bundesländern ist der Impfstart dann teilweise unverantwortlich lange verschleppt worden, etwa in Berlin und Baden-Württemberg. Der Impfstoff lag zum Beispiel fast vier Wochen in der Charité im Kühlschrank – im selben Krankenhaus lagen Menschen mit unerträglichen Schmerzen durch Affenpocken. Pain in the ass, die Lösung auf Eis gelegt. Das ist nicht hinnehmbar. Wir brauchen schnelle und unbürokratische Lösungen. Vielleicht wäre das besser gelaufen, wenn nicht “nur“ schwule Männer betroffen gewesen wären. Wir möchten niemandem pauschal einen Vorwurf machen, sind aber in den letzten Monaten immer wieder mit homophoben Untertönen konfrontiert worden.