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Letzte Worte
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Letzte Worte Experten befürchten, dass die Taliban bald alle LGBTI*-Afghanen ermordet haben werden

ms - 03.02.2023 - 13:00 Uhr

Die Lage in Afghanistan für homosexuelle und queere Menschen spitzt sich immer weiter zu – Experten gehen davon aus, dass die Taliban in den kommenden Wochen schrittweise alle LGBTI*-Menschen gefunden, inhaftiert und ermordet haben werden. In einem bitteren, vielleicht letzten Akt der Verzweiflung haben sich jetzt LGBTI*-Aktivisten in der afghanischen Hauptstadt Kabul in einer virtuellen Demonstration direkt an die US-Regierung gewandt – sie lasse die Menschen nach dem Abzug der Truppen im August 2021 im Stich.

Erschöpft und verzweifelt

"Wir sind erschöpft von der Rücksichtslosigkeit der USA! Trump hat den Taliban-Deal inszeniert. Biden hat sich zurückgezogen und uns zurückgelassen. Hört auf, uns zu bestrafen. Wir können hier nicht leben! Es gibt keine Liebe in einem Afghanistan, das von den Taliban kontrolliert wird. Wir wollen leben, nicht kämpfen, um am Leben zu bleiben!“, so das Statement der Aktivisten, dessen Forderungen gerade viral gehen. Ein weiterer Demonstrant fordert, dass auch andere westliche Regierungen endlich überhaupt beziehungsweise mehr LGBTI*-Flüchtlinge aufnehmen sollten.

Rettungsprojekte scheitern an der Bürokratie

Bisher haben sich nach längerer Wartezeit überhaupt nur Kanada und Deutschland dazu bereiterklärt, homosexuelle und queere Afghanen aufzunehmen. Der Teufel steckt dabei allerdings im Detail: In Kanada dauert das Aufnahmeverfahren nach Aussagen von Experten im Durchschnitt rund zwei Jahre. In Deutschland scheitert eine zeitnahe Rettung der letzten, noch lebenden LGBTI*-Menschen an bürokratischen Hürden wie beispielsweise fehlenden Belegen und Dokumenten seitens der Flüchtlinge. Im Herbst letzten Jahres hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) angekündigt, dass die Bundesrepublik ab sofort auch queere Flüchtlinge aufnehmen werde – bis heute wurde kein einziger LGBTI*-Afghane nach Deutschland ausgeflogen.

“Das sind meine letzten Worte“

Bei den Protestaktionen online steht vor allem die USA in der Kritik, die sich übereilt binnen weniger Tage aus dem Land zurückgezogen hatte – bis heute haben die Vereinigten Staaten von Amerika keine LGBTI*-Afghanen aufgenommen. Die Twitter-Nachrichten von LGBTI*-Afghanen vor Ort schwanken so immer wieder zwischen Verzweiflung und Todesmut: „Wir können nicht frei und lebendig sein, weil die Taliban uns niemals erlauben werden, unser normales Leben weiterzuführen!“, so Herman Mashal. Und Baran Afghan schreibt: „Wir werden nicht müde und hören nicht auf zu kämpfen. Wir werden nicht ruhen, bis wir unsere Rechte bekommen.“ Verbreitet werden die Nachrichten unter Hashtags wie #LetUsLive (Lasst und leben) oder auch  #TheseAreMyLastWords (Das sind meine letzten Worte).

Ein Leben ist für LGBTI*-Menschen in Afghanistan nicht möglich

Warum schweigen viele Medien?

Kritik richtet sich auch an die Medien, die die Situation vor Ort oftmals verschweigen. So schreibt das federführende Behesht Collective: “Wann wird die New York Times über die Notlage von LGBT+ Afghanen berichten?“ Der Protest wurde von zwei Gruppen organisiert: dem queeren Behesht Collective, das LGBTI*-Jugendliche in Afghanistan psychologische Beratung, Unterkunft und Evakuierung bietet, sowie der gemeinnützigen Organisation Roshaniya.

In Deutschland engagiert sich federführend der Bremer Verein Rat und Tat unter Leitung von Dr. Jörg Hutter um LGBTI*-Afghanen. Im SCHWULISSIMO-Interview berichtete Hutter über die dramatische Lage vor Ort: „Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Situation dramatischer. Die Taliban verfolgen alle LGBTI*-Afghanen ohne Erbarmen. Nach ihrer Verhaftung werden sie in der Regel brutal gefoltert und vergewaltigt. Wer nicht entkommen kann, der wird hingerichtet, zum Beispiel durch zu Tode peitschen, durch das Verbrennen mit glühendem Eisen oder offenem Feuer, durch Köpfen, Steinigung oder die Opfer werden direkt lebendig begraben.“

Die USA tut nichts für LGBTI*-Menschen

Sehr ähnlich sieht das auch der Menschenrechtsjournalist Nemat Sadat, selbst ein ehemaliger afghanischer Staatsbürger, der aus dem Land floh, nachdem islamische Geistliche vor Ort tödliche Fatwas gegen ihn verkündet hatten, weil er sich öffentlich als schwul geoutet hatte. Er erklärt: "Die Fakten sind sonnenklar: Die USA haben während der 20-jährigen US-Besatzung Afghanistans nichts für LGBTI*-Afghanen getan und verschließen weiterhin die Augen vor den Grausamkeiten der Taliban. Wenn die USA nicht ihren Kurs ändern und proaktiv mit dem Behesht Collective und Roshaniya zusammenarbeiten, werden wir Zeugen der totalen Vernichtung der LGBTI*-Community in Afghanistan."

Als im August 2021 die US-Truppen aus Afghanistan abzogen, hatte Präsident Joe Biden noch erklärt, mehr für LGBTI*-Afghanen tun zu wollen. Bereits vor der erneuten Machtübernahme elf Tage nach Abzug der US-Truppen hatten die Taliban allerdings versprochen, die islamische Scharia wieder einzuführen und  Homosexuelle durch Steinigungen oder Stoßen einer Mauer hinzurichten. Zehn internationale Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise die Human Rights Campaign forderten die Regierung Biden inzwischen auf, ihren 10-Punkte-Plan zur Unterstützung der Umsiedlung von LGBTI*-Afghanen in die Vereinigten Staaten endlich anzunehmen. Die amerikanische Regierung schweigt dazu bis heute.

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