Digitale Sucht LGBTI*-Jugendliche sitzen rund zehn Stunden täglich vor Bildschirmen – vier Stunden mehr als gleichaltrige Heterosexuelle
Eine neue Studie der Universität von Kalifornien lässt aufhorchen: LGBTI*-Jugendliche im Alter zwischen 10 und 14 Jahren verbringen rund vier Stunden pro Tag mehr vor ihren Smartphones und an anderweitigen Bildschirmen als gleichaltrige heterosexuelle Minderjährige.
Insgesamt sind sie damit mehr als zehn Stunden täglich beschäftigt – ob Fernsehen, YouTube-Videos, Videospiele, SMS, soziale Medien, Videochats oder das generelle Surfen im Internet, die queere Gen-Z ist ganz vorne mit dabei. Für die Studie unter Leitung von Jasan M. Nagata wurden die Daten von rund 10.400 jungen Menschen aus verschiedenen Ländern in Europa, den USA sowie auch Brasilien und Australien ausgewertet.
Flucht in die digitale Welt?
Nach Angaben der Autoren der Studie könnte gerade die Tatsache, seine eigene Homosexualität verstecken zu müssen oder schlicht, nicht vollständig man selbst sein zu können, der maßgebliche Aspekt für das besondere Online-Verhalten von LGBTI*-Jugendlichen sein.
Dazu kommen oftmals dann auch noch Ausgrenzungserfahrungen. Außerdem würden homosexuelle Jugendliche gerade aufgrund ihrer sexuellen Orientierung deutlich häufiger auch von außerschulischen Aktivitäten ausgeschlossen werden, beispielsweise einem Treffen mit Freunden – das schafft zusätzlich Raum für mehr Zeit vor den Bildschirmen. Dabei zeigen sich auch Unterschiede zwischen homosexuellen Jungs und Mädchen – die Jungs verbringen deutlich mehr Zeit mit Videospielen, darunter auch jenen, die eigentlich nicht für ihr Alter bestimmt sind.
Vorschub von gesundheitlichen Problemen
Die Forscher sind sich sicher, dass der generelle Trend bezüglich des steigenden Online-Konsums von LGBTI*-Minderjährigen auch in vielen westlichen Ländern wie Deutschland anzufinden ist, die Daten aus mehreren Ländern deuten dabei alle in die gleiche Richtung. Die Entwicklung ist klar: Weg von einem Freundeskreis aus Fleisch und Blut, hin zu verstärkt sozialen Strukturen und Freundschaften im digitalen Raum.
Allerdings könne dies nach Angaben der Autoren zu verstärkten gesundheitlichen Problemen führen: „Die Bildschirmnutzung wird mit verschiedenen negativen Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit in Verbindung gebracht, zum Beispiel mit Depressionen, Angstzuständen, Selbstmordgedanken, schlechtem Schlaf und kardiometabolischen Erkrankungen.“
Letzte Rettung Internet?
Das überdies Absurde: Je mehr Zeit LGBTI*-Jugendliche online verbringen, desto höher ist auch die Gefahr, selbst Opfer von digitalen Angriffen, dem Online-Bullying, zu werden. Auf der anderen Seite können geschützte Räume für homosexuelle und queere Minderjährige gerade auch auf dem Land wichtige Angebote darstellen, um sich mit Gleichaltrigen überhaupt austauschen zu können.
Zusammengefasst halten die Autoren so weiter fest: „Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, sind häufiger von Mobbing, Diskriminierung und psychischen Problemen betroffen und nutzen möglicherweise bildschirmbasierte Aktivitäten, um Kontakte zu knüpfen und Unterstützung zu finden, um sich aus einer ansonsten unsicheren oder isolierenden Umgebung zu retten.“
Weg in die Online-Sucht
Bisher war über die Zusammenhänge zwischen sexueller Orientierung und Bildschirmnutzung wenig bekannt, insbesondere in der frühen Jugend, wenn viele Jugendliche ihre Sexualität noch erforschen. Endgültige Schlussfolgerungen gäbe es dabei allerdings auch jetzt noch nicht, die Daten legten aber eine unheilvolle Verbindung zwischen spezifischen Problemen von LGBTI*-Jugendlichen und einem steigenden Bildschirmkonsum nahe. Noch weniger Informationen gibt es darüber hinaus über unheilvolle Entwicklungen, in denen aus der Bildschirmzeit bei LGBTI*-Jugendlichen auch eine Bildschirmsucht werden kann.
Um hier zu helfen, bedürfe es einer individuelleren Beratung für LGBTI*-Jugendliche und nicht eines Einheitsansatzes, der hier oftmals aufgrund der anderen Ausgangslage gar nicht greifen kann, wie die American Academy of Pediatrics dazu festhält. „Die aktuelle Studie kann als Grundlage für eine individuellere Beratung dienen, insbesondere für heranwachsende Jungen und Mädchen aus sexuellen Minderheiten. Eltern, Lehrer und Kinderärzte sollten sich darüber im Klaren sein, dass Jugendliche aus sexuellen Minderheiten mit höherer Wahrscheinlichkeit einen problematischen Bildschirmkonsum aufweisen als ihre heterosexuellen Altersgenossen, und auf Warnzeichen für einen problematischen Bildschirmkonsum achten, wie zum Beispiel Stimmungsschwankungen, Konflikte, weniger Toleranz, Rückzug und Rückfall.“
Der „seltsame Einzelgänger“
Ganz neu ist der Rückzug in eine „andere Welt“ von jungen Homosexuellen dabei nicht, wie die Autoren weiter festhalten, denn bereits frühere Untersuchungen zeigten, dass „Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, mehr Zeit mit nicht-aktiven Freizeitaktivitäten verbringen, zum Beispiel Lesen, Singen, Spielen von Musikinstrumenten.“ Der klassische „seltsame Einzelgänger“ eben.
Die neue Studie indes beschäftigt sich erstmals mit diesem Rückzugsverhalten in die digitale Welt. „Insgesamt deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, einen unverhältnismäßig hohen Anteil ihrer Zeit mit Bildschirmaktivitäten verbringen.“
Digitale Welten – Fluch und Segen zugleich
Als Fazit wird von den Autoren so festgehalten: „Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, haben ein höheres Risiko, in der Schule viktimisiert zu werden, und es ist wahrscheinlicher, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von Gleichaltrigengruppen ausgeschlossen werden als heterosexuelle Jugendliche. Dies könnte erklären, warum Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, weniger Zeit mit traditionellen sozialen oder außerschulischen Aktivitäten in der Schule verbringen und mehr Zeit mit bildschirmgestützten Aktivitäten verbringen. Im Gegensatz dazu ist es möglich, dass virtuelle soziale Netzwerke über SMS, soziale Medien und das Internet eine Ressource für Jugendliche aus sexuellen Minderheiten darstellen, um mit anderen LGBTI*-Jugendlichen oder -Erwachsenen in Kontakt zu treten und von ihnen Unterstützung zu erhalten, die in ihren lokalen Gemeinschaften möglicherweise nicht vorhanden sind. Die Bildschirmmodalität mit dem stärksten Zusammenhang mit dem Status einer sexuellen Minderheit waren YouTube-Videos. YouTube und andere Ressourcen im Internet können im Vergleich zum traditionellen Fernsehen als Quelle für LGBTI* -orientierte Inhalte für Jugendliche aus sexuellen Minderheiten dienen, die ihre Identität erkunden.“