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CSDs ohne Gewalt
Rubrik

CSDs ohne Gewalt!? Was erwartet Pride-Besucher bei den großen CSDs im Sommer?

ms - 25.06.2024 - 14:00 Uhr

Im Juli geht die CSD-Saison in die heiße Phase, der Pride kommt unter anderem nach Berlin, München, Stuttgart oder Mannheim. Doch wie kann es gelingen, dass die großen Demonstrationen möglichst ohne Gewalt verlaufen? SCHWULISSIMO fragte nach bei Andre Lehmann aus dem LSVD-Bundesvorstand.  

Zu Beginn der Pride-Saison haben wir bereits Angriffe auf CSD-Teilnehmer erlebt. Wie sieht die Gefahrenlage aktuell aus?

Die Sicherheitslage rund um die Prides und CSDs in Deutschland ist leider so angespannt wie lange nicht mehr. Sowohl die großen als auch die kleinen CSDs können ein potenzielles Ziel sein – sei es von rechtsradikalen oder religiös motivierten Tätern. Das darf uns aber nicht davon abbringen, für unsere Rechte und eine vielfältige Gesellschaft zu demonstrieren. Wenn wir davor zurückschrecken, hätten diejenigen bereits gewonnen, die uns angreifen wollen.

Sowohl letztes wie auch dieses Jahr kam es schon wieder zu Aufmärschen von Rechtsextremisten bei CSDs, oftmals kommt es bereits im Vorfeld zu Drohungen. Was lässt sich dagegen tun?

Die AfD ist der geistige Brandstifter der rechtsextremen Szene. Durch diese Partei ist vieles wieder sagbar geworden, was vor wenigen Jahren in unserer Gesellschaft noch unsagbar war. Inzwischen sehen wir, worauf viele seit Jahren hinweisen: Aus Worten werden irgendwann Taten. Es ist wieder salonfähig geworden, queerfeindlich zu sein. Das motiviert einerseits Neonazis. Aber auch viele andere fühlen sich dadurch ermutigt, die nicht zwingend ein rechtsextremes, aber zumindest ein LGBTI*-feindliches Weltbild haben. Deshalb braucht es einen Aufschrei der gesamten Gesellschaft. In solchen Zeiten sind Verbündete besonders wichtig für die Community. Deswegen hoffe ich, dass möglichst viele zu den Prides kommen und ein Zeichen für Vielfalt und Freiheit setzen, auch wenn sie nicht queer oder Teil der Community sind.

Aber warum ist es plötzlich wieder so salonfähig, gegen Homosexuelle zu hetzen? Das kann doch nicht „nur“ an Rechtsextremisten liegen, oder?

Wir befinden uns als Gesellschaft in einer Phase, in der sich menschenfeindliche Tendenzen selbst verstärken. Ein veraltetes Männlichkeitsbild, das sich unter anderem durch Queerfeindlichkeit auszeichnet, hat sich weit über rechtsextreme oder radikalreligiöse Gruppen hinaus ausgebreitet. 

Wie können sich CSD-Teilnehmer schützen? 

Das individuelle Risiko ist je nach Größe der Prides unterschiedlich. Große Prides stehen in einem stärkeren Fokus. Das kann Extremisten abschrecken, aber auch motivieren. Es tut weh, eine solche Empfehlung geben zu müssen, aber ich glaube, wir sind gut beraten, einen CSD abends lieber in Gruppen zu verlassen. Wir müssen aufeinander acht nehmen und einschreiten, wenn wir gefährliche Situationen am Rande oder im Umfeld eines CSDs wahrnehmen. Ich will die Situation nicht verharmlosen. Das Klima wird rauer – das belegen alle Zahlen und ist für viele von uns direkt spürbar. Gleichzeitig möchte ich keine Panik schüren. Die Prides sind unser mächtigstes Werkzeug, um sichtbar zu sein und für eine vielfältige Gesellschaft zu werben. Ich bin nicht bereit, den Feinden unserer Freiheit diesen Raum zu überlassen! Kommt auf die Prides, feiert euer Leben, kämpft für eure Rechte – bei allen Risiken ist es das wert.

Immer wieder hört man aus der Community auch, dass einige lieber gar nicht mehr zu einem CSD gehen, aus Angst vor Übergriffen. 

Ich kann die Bedenken verstehen. Das muss man individuell für sich selbst bewerten und entscheiden. Unsere heutigen Rechte und Freiheiten wurden aber nicht auf der Couch erkämpft. Wenn wir aufeinander aufpassen und zusammenstehen, können wir die Gefahren minimieren und weiterhin sichtbar bleiben. Es bricht mir das Herz, wenn sich Menschen nicht auf einen CSD trauen, weil sie Angst haben. Ich stelle mir dann ernsthaft die Frage, wie weit unsere Gesellschaft bereits verkommen ist. Die Sicherheitsbehörden und die Politik haben dafür zu sorgen, dass CSDs ohne Angriffe über die Bühne gehen können. In den meisten Bundesländern wurde das sehr lange verschlafen. Ich erwarte von allen Landesregierungen, dass sie die Gefahren ernst nehmen und ausreichend Polizeikräfte stellen, statt sich betroffen zu äußern, wenn etwas passiert ist. 

Steht sich die Community bei der Durchsetzung ihrer Forderungen auch manchmal selbst im Weg? 

Natürlich stehen wir uns manchmal selbst im Weg. Das gehört aber zu einem gewissen Grad dazu. Die queere Community ist kein homogener Haufen, in dem alle die absolut gleiche Meinung oder dieselbe Ansicht besitzen. Ich finde beispielsweise, dass manche in der Community eine „alles oder nichts“-Mentalität haben. Realpolitisch ist das nicht durchzusetzen. Das war es nie und wird es nie sein. Wir erreichen mehr, wenn wir in logischen Schritten denken. Manchmal stört mich auch das Selbstbild mancher: Wir sind keine abgeschottete moralische Elite, die sich im Selbstmitleid ergeben sollte. Stattdessen sind wir ein elementarer Bestandteil dieser Gesellschaft und in allen Teilen dieser Gesellschaft vertreten. Als solcher wollen wir einfach gleiche Rechte, Sicherheit und genug Raum, um uns zu entfalten. Darum geht es.

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