Chemsex-Welle in England 1.000 Todesfälle in den letzten zehn Jahren
Chemsex und Großbritannien – bis heute kratzt das Bild der „sexgeilen drogensüchtigen Schwulen“ massiv am Image der gesamten Gay-Community und hat dabei die Akzeptanz von Schwulen auf der Insel negativ beeinflusst. Das führt zu steigenden Todeszahlen, wie neue Untersuchungen und Interviews mit Betroffenen aktuell nahelegen.
Angst vor Konsequenzen
Das Kernproblem dabei: Da in den meisten Fällen, in denen eine Überdosis gemeldet wird, vor dem Krankenwagen die Polizei eintrifft, scheuen sich offenbar immer mehr Chemsex-Nutzer davor, überhaupt noch einen Notarzt zu rufen. Die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen ist zu groß. So werden selbst bei akuten Notfällen die zumeist ohnmächtigen Betroffenen im Stich gelassen oder von anderen Chemsex-Teilnehmern einfach bewusstlos in ein Taxi gesetzt und ins nächste Krankenhaus geschickt, wie Patriic Gayle vom Londoner Gay Men's Health Collective (GMHC) berichtet.
Ein Mordfall und eine homophobe Polizei
Zwei weitere Aspekte haben in den letzten Jahren die Situation für schwule Chemsex-Nutzer weiter verschlimmert. Das eine war der sogenannte „Grindr-Killer“, der Serienmörder Stephen Port, der mit klassischen Chemsex-Substanzen wie GHB (Liquid Ecstasy) Mitte der 2010er Jahre vier junge schwule Männer mit einer Überdosis ermordete. Der ganze Fall festigte außerhalb wie auch innerhalb der Gay-Community das negative Bild von Chemsex-Nutzern und isolierte diese weiter, sodass sie für Beratungen oder Hilfe überdies immer schwieriger zu erreichen waren und sind.
Das andere ist die britische Polizei selbst, die bis heute bei allen Beteuerungen in weiten Teilen noch immer strukturell homophob ist und bei Fällen mit Homosexuellen in der Vergangenheit entweder direkt mit Vorurteilen und Ignoranz reagierte oder anderweitig dringende Ermittlungsarbeit schlicht unterließ.
Chemsex-Nutzer sind weitestgehend isoliert
Am Ende wurden Chemsex-Nutzer somit immer mehr in den Untergrund getrieben, die Corona-Pandemie verschlimmerte die Lage einmal mehr – Konsumenten daher heute effektiv zu erreichen oder anzusprechen, scheint immer mehr unmöglich für LGBTI*-Beratungsvereine zu werden. Die Entwicklung wird überdies durch den generellen Trend verschärft, dass Sex-Partys immer mehr in privaten Wohnungen stattfinden, während britische Gay-Clubs immer weniger Zulauf erleben.
1.000 Tote und lückenhafte Daten
Die britische Regierung geht von rund 1.000 Menschen aus, die in den letzten zehn Jahren durch sogenannte „chemsex-bezogene Schäden“ gestorben sind. Die genauen Zahlen sind oftmals lückenhaft und auch wenn laut der jährlichen Drogenerhebung des Office of National Statistics (ONS) der Konsum von Mephedron oder Crystal Meth offiziell zurückgegangen ist, ist immer noch die Rede von bis zu 500.000 Konsumenten im Vereinigten Königreich – die Dunkelziffer dürfte auch hier deutlich höher liegen. Bei GHB wurden zuletzt rund 210.000 Konsumenten im Jahr 2023 dokumentiert. Die Daten bleiben laut den Experten lückenhaft, weswegen sich schwer abschätzen lässt, wie sich die schwule Chemsex-Szene tatsächlich entwickelt.
Neue Taktik bei der Ansprache
Die Londoner Klinik für sexuelle Gesundheit ist nach wie vor führend im Bereich Chemsex und verfasste bereits vor zehn Jahren die erste Studie darüber. Die Fachleute betonen, dass ein weiteres Problem in der Selbstwahrnehmung vieler Chemsex-Anwender liege, die sich selbst nicht als „drogenkrank“ oder „behandlungsnötig“ einschätzen würden, denn sie konsumieren die Substanzen ja „nur beim Sex“.
Es bedürfe hier daher eines komplett anderen Ansatzes beim Erstkontakt mit Chemsex-Nutzern, so die Klinikleitung weiter. Die britische Regierung teilte derweil mit, man habe den lokalen Behörden umgerechnet rund 620 Millionen Euro bereitgestellt, um den Schaden zu verringern und die Genesungsraten bei Drogenabhängigkeit zu verbessern sowie die Rehabilitation zu unterstützen. „Wir arbeiten weiterhin mit den Beauftragten für Substanzmissbrauch und für sexuelle Gesundheit zusammen, um den Zugang zu Unterstützungsdiensten für Menschen zu verbessern, die Drogen im Zusammenhang mit Chemsex konsumieren.“
Weitere Todesfälle befürchtet
Klar sei dabei laut den Experten der Klinik aber auch, die Problematik bleibe ein „Nischenthema“, weswegen sich eine langfristige Finanzierung nur schwer sichern lasse – das wiederum erhöhe die Gefahr von einem weiteren Anstieg der Todesfälle in der britischen Chemsex-Szene.
Mehrere Studien der letzten Jahre beschäftigten sich mit dem Phänomen Chemsex, beispielsweise auch im Spannungsfeld mit HIV. Eine niederländische Studie untersuchte zuletzt die sozialen Faktoren genauer, die schwule Männer vermehrt beim Sex zu Drogen greifen lassen.