Bundesregierung in der Kritik „Wäre die gesamte Bevölkerung in ähnlichem Ausmaß betroffen, hätte sich einiges schneller regeln lassen!“
Die Gay-Community wartet und wartet – von Woche zu Woche werden die Fragen nach mehr Impfstoff gegen die Affenpocken drängender, vor allem, aber nicht nur in Berlin fragen sich viele schwule Männer, wann sie sich endlich impfen lassen können. Das Robert-Koch-Institut (RKI) vermeldet aktuell rund 3.500 Fälle. Konkrete Antworten von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gibt es bis heute nicht. Was lässt sich trotzdem aktuell über die Affenpocken-Situation festhalten? SCHWULISSIMO fragte nach bei Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe (DAH).
Ende August erreichte uns die positive Nachricht, dass unerwartet 20.000 weitere Impfdosen in Deutschland verteilt werden, bis Ende dieses Monats werden nochmals 200.000 Einheiten erwartet. Für die DAH reicht das bei weitem noch nicht aus, bedenkt man die Zahl der vielen Homosexuellen in Deutschland, die noch immer zumeist von MPX betroffen sind. Der Lesben- und Schwulenverband hat sich euren Forderungen angeschlossen, das Gesundheitsministerium schweigt und das RKI sagt, die Impfdosen reichen schon aus. Wie seht ihr das aktuell?
Wenn die Bundesregierung erklärt, der bereits bestellte Impfstoff sei ausreichend, dann ist das aus unserer Sicht unter den aktuellen Bedingungen schlicht nicht zutreffend. Wir werden mehr benötigen, als die bereits bestellten Dosen, die lediglich den dringendsten Bedarf decken. Und wir vermissen eine öffentliche Stellungnahme zu dieser Einschätzung, Engagement für die Produktion von mehr Impfstoff und vor allem Transparenz über die aktuellen Vorgänge. Zurückhaltung und spärliche Kommunikation beschädigen das Vertrauen vieler schwuler und bisexueller Männer ins Bundesgesundheitsministerium und in die Landesregierungen – und gefährden damit auch die Prävention.
Die Schweiz hat ähnlich wie die DAH den nötigen Bedarf hochgerechnet und Ende August 100.000 Impfdosen bestellt. Österreich streckt den Impfstoff auf ein Fünftel der ursprünglichen Dosis als Basisschutz für schwule und bisexuelle Männer. Wäre das eine Idee auch für Deutschland?
Auch in Deutschland wird zurzeit die Möglichkeit einer sogenannten intradermalen Impfung diskutiert. Dabei wird ein Fünftel der Impfstoffmenge in die oberen Hautschichten injiziert, was eine stärkere Immunreaktion hervorruft, sodass die reduzierte Impfstoffmenge offenbar ausreicht. Zurzeit werden diesbezüglich noch medizinische, juristische und organisatorische Fragen erörtert. Wir hoffen sehr, dass sich die Möglichkeit einer intradermalen Impfung rasch als tauglich erweist und dann auch in Deutschland umgesetzt wird. Die intradermale Impfung würde ermöglichen, mit dem bereits bestellten Impfstoff eine Million Impfungen durchzuführen – das wäre in Deutschland der Durchbruch, den wir brauchen. Deutschland sollte bezüglich der Impfungen vorangehen und auch international Verantwortung übernehmen. Das Bundesgesundheitsministerium hat sehr früh Impfstoff bestellt – das war gut und umsichtig. Aber es reicht auf lange Sicht bei weitem nicht aus.
Zuletzt ging in Europa wie auch in Deutschland die Zahl der Neu-Infektionen zurück, in den USA dagegen steigen die Fallzahlen. Das RKI mahnt zur Vorsicht – wie sieht die DAH das?
In den letzten Wochen gab es einen deutlichen Rückgang. Der hat vermutlich mehrere Gründe: Viele Menschen mit hohem Risiko haben sich bereits infiziert, immer mehr sind geimpft und viele schwule und bisexuelle Männer sind im Moment sexuell sehr zurückhaltend. Der Rückgang ist vor allem ein Erfolg der Anstrengungen dieser Gruppe, sich zu schützen, und das gehört öffentlich gewürdigt. Ein neuerlicher Anstieg ist natürlich nicht auszuschließen. In England ist das nach einer Phase des Rückgangs auch passiert. Es ist noch viel zu früh, um Entwarnung zu geben. Zudem: Wenn Menschen nach einer Zeit der Enthaltsamkeit oder Zurückhaltung sich entscheiden, nun wieder Sex zu haben, sollte man dies nicht als Nachlässigkeit bezeichnen. Damit würden wir die Bedürfnisse und persönlichen Entscheidungen von Menschen verurteilen. Das steht uns nicht zu und schadet auch der Prävention. Es war von vornherein klar: Sexuelle Zurückhaltung kann eine Weile eine Schutzstrategie sein – aber das funktioniert nicht auf Dauer. Sexualität ist ein Bedürfnis, das sich nicht beliebig lange zurückstellen lässt. Es bleibt eine Entscheidung der Individuen, wieweit und in welcher Form sie sich schützen und wie sie ihre sexuellen und gesundheitlichen Bedürfnisse unter einen Hut bringen.
Also bleibt Vorsicht nach wie vor geboten. Mit Blick auf das Fetisch-Festival Folsom in Berlin dieser Tage ein mitunter schwieriges Unterfangen. Niemand will die wichtige Veranstaltung für die Community schlechtreden, aber zumeist kommt es im Umfeld von Folsom auch zu vielen sexuellen Kontakten, noch dazu in Berlin, der Stadt mit den meisten MPX-Fällen in ganz Deutschland. Wie siehst du das?
Manche Teilnehmer von Folsom werden bereits geimpft sein, andere aber nicht. Daher ist es besonders wichtig, dort auf Möglichkeiten hinzuweisen, wie Risiken reduziert werden können. Zum Beispiel können Kondome beim Geschlechtsverkehr beziehungsweise Handschuhe beim Fisten die besonders schmerzhaften Symptome einer MPX-Infektion im Genital- und Analbereich verhindern – wenn auch nicht die mögliche Übertragung an anderen Körperstellen. Wir möchten davor warnen, die Veranstaltung irgendwie an den Pranger zu stellen oder auch nur allen Teilnehmern ein bestimmtes Verhalten zu unterstellen. Folsom ist nicht nur ein sexuelles, sondern auch ein soziales Event. Es gibt viele Arten, dort zu feiern. Wie Menschen das Fest für sich gestalten, liegt ganz bei ihnen selbst. Solche Ereignisse sind gerade nach der Covid-Pause sehr wichtig für die Communitys.
Absolut! Blicken wir doch noch auf die Stigmatisierung von schwulen und bisexuellen Menschen aktuell insgesamt. Immer wieder kommt die Frage auf, was ist berechtigte Warnung, was bereits Stigmatisierung. Nach knapp vier Monaten mit MPX, wie siehst du das?
Es ist richtig und wichtig, darauf hinzuweisen, dass bisher die allermeisten MPX-Betroffenen Männer sind, die Sex mit Männern haben. Schließlich müssen wir gewarnt sein und wissen, woran wir sind. Genauso wichtig ist aber, deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine “Schwulenseuche“ handelt und dass prinzipiell jeder Mensch sich anstecken kann. Potenziell stigmatisierende Wörter wie “Risikogruppe“ gilt es zu vermeiden, ebenso die Abwertung sexueller Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die oft auch unterschwellig passiert. Uns sind gerade in der fachlichen Diskussion immer wieder auch Äußerungen begegnet, die darauf hinauslaufen, dass schwule Männer sich jetzt doch bitte mal zurückhalten sollten. Oft schwingen Schuldzuweisungen mit. Diese Abwertungen bauen kontraproduktiven Druck auf, sind fehl am Platze und stigmatisierend. Wir haben zugleich den Eindruck, dass in Politik und Verwaltung teilweise zu langsam reagiert wurde, etwa beim Impfstart in manchen Bundesländern, und dass es damit zusammenhängen könnte, dass “nur“ schwule Männer betroffen sind. Wäre die gesamte Bevölkerung in ähnlichem Ausmaß betroffen, hätte sich einiges sicherlich schneller und unbürokratischer regeln lassen.
Viele in der Gay-Community warten und warten auf einen Impfstoff, der vielleicht jetzt bald kommt oder auch nicht – konkrete und stichhaltige Aussagen sind Mangelware. Das schafft Unmut in der Community. Wie können wir diesem am besten entgegenwirken?
Diesem Unmut kann und muss durch Engagement für mehr Impfstoff und transparente Kommunikation über die aktuelle Lage begegnet werden. Die betroffenen und gefährdeten Menschen haben ein Bedürfnis und ein Recht zu erfahren, wie die Situation ist und wie die zuständigen Stellen darauf reagieren. Wann kommt der Impfstoff? Wie geht es danach weiter? Diese Fragen treiben sie um, und ihr Vertrauen in die Prävention hängt von den Antworten ab. Als Deutsche Aidshilfe können wir sagen: Wir stehen im Kontakt mit den staatlichen Stellen und setzen uns mit aller Kraft dafür ein, dass alle eine Impfung angeboten bekommen. Die Lieferung der 200.000 bereits bestellten Impf-Dosen ist für Ende September angekündigt, angesichts der aktuellen Situation aber eventuell noch mit Unsicherheiten behaftet.