Antibiotikum gegen STI? Hitzige Debatte unter STI-Experten: Schadet oder nützt die Vergabe von Antibiotika mehr?
Außer Kontrolle! Mit diesen zwei Worten beschrieb bereits im September letzten Jahres David Harvey, der geschäftsführende Direktor der National Coalition of STD Directors, die Situation in den USA. Geschlechtskrankheiten (STI) verbreiten sich in den Vereinigten Staaten von Amerika in beinahe atemberaubender Geschwindigkeit, die Regierung scheint der Lage vielerorts gar nicht mehr Herr zu werden. Bereits vor der Pandemie war die Gesundheitsversorgung, gerade auch für Risikogruppen wie schwule Männer prekär.
Seit Covid-19 und der damit einhergehenden zwischenzeitlichen Konzentration vieler Teststationen auf die Corona-Impfung scheint sich die Situation dramatisch weiter verschärft zu haben. Nun werden die Forderungen seitens zahlreicher Gesundheitsexperten laut, neue Wege zu gehen – einer davon: Schwulen Männern und Trans-Frauen, die ein hohes Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten haben, soll präventiv eine antibiotische Pille verschrieben werden.
Mehr Schaden oder Nutzen?
Die Forderung fußt dabei auf aktuellen Forschungsergebnissen, die aufzeigen, dass die Einnahme des Antibiotikums Doxycyclin nach dem Sex die Infektionsraten mit Geschlechtskrankheiten in dieser Bevölkerungsgruppe erheblich senkt. Fraglich allerdings ist, ob ein massenhafter Einsatz eines Antibiotikums zu diesem Zweck am Ende nicht deutlich mehr Schaden bewirken würde, indem es damit die globale Krise antibiotikaresistenter Infektionen noch weiter anheizt und das Mikrobiom vieler Menschen schädigt, darunter wahrscheinlich auch vieler HIV-positive Menschen.
Ebenso zu befürchten ist, dass die breite Vergabe von Doxycyclin das Auftreten arzneimittelresistenter Erreger, insbesondere von Staphylokokken, fördern könnte. Noch bis Sonntag werden Experten über das Für und Wider bei der jährlichen Konferenz über Retroviren und Infektionen in Seattle sprechen. „Es wird eine sehr strenge Debatte darüber geben, ob dies eine gute Idee ist und wenn ja, für wen", so Dr. Matthew Golden, Direktor des HIV- und STI-Programms im Gesundheitsamt von Seattle.
Rückgang von Geschlechtskrankheiten um rund 90 Prozent
Die Forschungsergebnisse stammen dabei von einer randomisierten Studie, in der festgestellt wurde, dass das Risiko bakterieller Geschlechtskrankheiten sinkt, wenn schwule und biologische Männer – damit auch Trans-Frauen, so die Fachleute – angewiesen werden, das Antibiotikum innerhalb von 72 Stunden nach dem Sex ohne Kondom einzunehmen. Der Fachterminus dazu ist die Doxycyclin-Postexpositionsprophylaxe, kurz DoxyPEP. An der neuen, in Frankreich durchgeführten Studie nahmen rund 500 schwule und biologische Männer teil. Das Ergebnis zeigte auf, dass Doxycyclin die Raten von Gonorrhöe, Chlamydien und Syphilis um 51 bis zu 89 Prozent senken konnte.
Strittig bleibt das Ergebnis trotzdem, weil solche Daten in einer zweiten französischen Studie bisher nicht festgehalten werden konnten. Erstaunlicherweise zeigte sich bisher zudem, dass der positive STI-Effekt auch nur bei schwulen und biologischen Männern greift, nicht aber bei lesbischen Frauen. „Die Daten zeigen bei Männern einen konsistenten Nutzen in Bezug auf die Verringerung der Inzidenz von bakteriellen STIs", so Dr. Jean-Michel Molina, der Hauptautor beider französischer Studien und ein LGBTI*-Gesundheitsforscher an der Université Paris Cité.
2,5 Millionen Fälle von STI in einem Jahr
Schwule und biologische Männer sowie Trans-Frauen stehen im Mittelpunkt der jüngsten Forschungsarbeiten zur pharmakologischen Prävention von Geschlechtskrankheiten, da sie eine höhere Infektionsrate aufweisen als heterosexuelle Personen. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), machen beispielsweise weniger als zwei Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung aus, sind aber nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC für mehr als 40 Prozent der Syphilisdiagnosen in den USA verantwortlich. In den letzten zwei Jahrzehnten sind Gonorrhoe, Chlamydien und Syphilis stark angestiegen, auf 2,5 Millionen Fälle im Jahr 2021.
Am kritischsten ist die Syphilis, die in den späten 1990er Jahren fast ausgerottet wurde, aber nach Angaben der CDC zwischen 2017 und 2021 um 68 Prozent auf rund 171.000 Fälle wieder in die Höhe geschnellt ist. STI-Fachmann Harvey führt das nebst Kürzungen im Gesundheitswesen auch auf den Rückgang der Nutzung von Kondomen zurück, deren Verbrach seit den ersten wirksamen HIV-Therapien und nochmals seit Einführung der HIV-Präventionspille PrEP vor einem Jahrzehnt stark zurückgegangen ist.