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20 Jahre Ehe für alle

20 Jahre Ehe für alle Deutschlands Sehnsuchtsland Kanada hat Grund zur Freude - doch in jüngster Zeit ändert sich die Lage für LGBTIQ+-Menschen

ms - 18.07.2025 - 16:30 Uhr
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Kanada feiert 20 Jahre Ehe für alle! Am 20. Juli 2005 trat das neue Gesetz in Kraft. Ein Meilenstein – einmal mehr war Kanada ein Vorreiter, wenn es um die Menschenrechte der Community ging. Seit 1967 ist Homosexualität im Land bereits legal, die sexuelle Identität wird in der Verfassung geschützt. Bis heute ist Kanada auch eines der großen Sehnsuchtsorte für viele queere Menschen aus Deutschland. Ist also alles wunderbar? 

Heile Welt Kanada? 

Mitnichten, denn die neuste Ipsos-Studie zeigte auf, die Sichtbarkeit der Community und die Akzeptanz gegenüber LGBTIQ+-Menschen haben zuletzt rapide abgenommen. Bei der jüngsten Befragung stimmte nur noch eine Minderheit von 49 Prozent der Kanadier zu, dass Menschen offen über ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität sprechen sollten – vor drei Jahren waren das noch 12 Prozent mehr. Küsse oder Händchenhalten wollen nur noch 40 Prozent bei LGBTIQ+-Personen sehen. 

Um zehn Prozent sank der Wunsch nach queeren Charakteren auf den TV-Bildschirmen, nur ein Drittel will das überhaupt noch. Damit einhergehend steigt inzwischen die Hasskriminalität an, binnen eines Jahres wurden 860 Fälle registriert – viermal so viel wie vier Jahre zuvor. Warum ist das so? SCHWULISSIMO fragte nach bei Schriftsteller Josef Heinrich (45), der Deutsch-Kanadier lebt abwechselnd in Vancouver und München. 

Josef, wie erklären sich die queeren Kanadier diesen Rollback?

Einige Aktivisten gehen davon aus, dass die queerfeindliche Agenda der USA erste Auswirkungen auf Kanada hat, die Rede ist von rechtspopulistischen Anti-LGBTIQ+-Kampagnen. Das könnte ein Aspekt sein, kann aber unmöglich allein diese massive Kehrtwende erklären, denn Rechtsextreme haben in Kanada nicht so viel Einfluss, zudem halten wir seit jeher gern auch skeptisch Abstand zum Nachbarland. Schwule und lesbische Vereine betonen indes, dass sich eine gewisse Spaltung der Community abzeichnet und das auch Auswirkung auf die gesamte Bevölkerung hat. Blickt man bei der Ipsos-Studie ins Detail, sieht man, dass sich noch immer 75 Prozent der Kanadier für die Ehe für alle aussprechen, 70 Prozent befürworten auch das Rechte auf Adoption bei Schwulen und Lesben. Die kanadische Autorin Meghan Murphy erklärte unlängst in einem sehr beachteten Artikel, dass der Enthusiasmus für die Rechte von trans* Menschen sinke und dies maßgeblich zu den schlechten Ergebnissen führe. Richtig oder falsch? Hier in Vancouver hat jeder dazu eine andere Meinung; das wird dieses Jahr beim Pride Anfang August besonders spannend werden.

Fakt ist, dass die Hasskriminalität wieder ansteigt. Erlebt man das auch direkt auf der Straße?

Ja! Verstehe mich nicht falsch, ich denke, in Kanada lebt es sich als queere Person noch immer ziemlich gut, aber du merkst schrittweise Veränderungen. Ich habe meine Jugendjahre in Deutschland verbracht und bin erst danach nach Kanada gekommen. Ich weiß noch, dass ich damals in einem Club von einem Barkeeper ausgelacht wurde, nachdem ich gefragt hatte, wo denn hier die schwulen Bars und Treffpunkte seien. Er erklärte mehr, dass sich die Szene, wie sie in Deutschland oft noch konzentriert in einigen Stadtvierteln existiert, in Vancouver und anderen großen Städten längst aufgelöst habe. In beinahe jedem Viertel gibt es queere Anlaufstellen. Die Community war so sehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen, dass es keine eigenen Szeneviertel mehr brauchte. Gewalt gegen Schwule war eine so große Seltenheit, dass du sie an einer Hand abzählen konntest. Das hat sich inzwischen alles wieder geändert. In Vancouver bündelt sich das Angebot wieder verstärkt auf das West End und die Davie Street zum Beispiel. Und abends gehen viele lieber wieder gemeinsam nach Hause, als allein unterwegs zu sein. 

Das klingt nicht gut! Für mich war Kanada gerade als schwuler Mann lange Zeit das gelobte Land. Glaubst Du, es wird noch schlimmer? Wie denkt die Community darüber?

Ich schreibe zwar viel über und spreche viel mit Vertretern der Community, aber eine einheitliche Meinung gibt es nicht. Viele wollen es nicht wahrhaben. Andere, ältere Menschen befürchten schlimmere Zeiten. Viele junge Queers setzen weiter eher auf Party und Lebenslust, vielleicht mit Scheuklappen im Gesicht. Aber ja, die Befürchtungen, dass es schlimmer wird, sind da und dieses diffuse Gefühl wird stärker und stärker. Wir blicken auch noch skeptisch auf unseren neuen Premierminister Mark Carney, mal sehen, wie sehr er uns unterstützt, wenn es stürmisch wird. Ich selbst würde sagen, ich war lange Zeit naiv mit Blick auf Kanada, es wurde irgendwie immer nur besser und besser für uns. Jetzt verstehe ich langsam, dass der Wind sich schneller drehen kann, als man das denkt – und dass das überall passieren kann. Wenn es in Kanada geschieht, welche Community in welchem Land soll dann noch sicher sein? Ich verstehe viele interne Kritik innerhalb der Community, denke aber auch, wir sollten uns zusammensetzen und uns wie auch immer versöhnen. Wenn wir als Community nicht zusammenstehen, haben wir noch schlechtere Karten in den kommenden Jahren. 

Josef, vielen Dank für das Gespräch.

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