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Steigende Hasskriminalität in der Regenbogenhauptstadt

Regenbogenhauptstadt Steigende Hasskriminalität

ms - 29.09.2023 - 17:00 Uhr

Was muss getan werden? Fragen an Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner

Berlin. Hauptstadt. Regenbogenhauptstadt. Bis heute rankt sich um die Millionenmetropole ein Mythos zwischen unbändiger sexueller Freizügigkeit und einem Ort, an dem jeder so leben kann und sein darf, wie er ist. Bereits zu Wowereits Zeiten war Berlin arm aber sexy und das Flair jener einzigartigen Weltstadt hat sie sich bis heute wenigstens teilweise erhalten – ein Magnet für alle homosexuellen und queeren Menschen aus Deutschland und der halben Welt ist Berlin auch im Jahr 2023 noch. Das Epizentrum der Community ist bis heute dabei der schwul-lesbische Nollendorfkiez, ein Ort, an dem es bisweilen völlig normal ist, früh morgens einer betrunkenen Drag Queen und ihrem Puppy auf allen vieren zu begegnen. Berlin gefällt sich dabei auch sehr gerne selbst in diesem Mythos einer Stadt, in der alles möglich ist und jeder willkommen scheint. Und für wahr gibt es tatsächlich viele Möglichkeiten, sich auszuprobieren und zu entfalten, auch heute noch und gerade für LGBTI*-Menschen.  

Dabei ist Berlin bei weitem nicht nur heile Welt, besonders für LGBTI*-Menschen nicht. Die Fälle von Hasskriminalität steigen rapide an. Das Anti-Gewalt-Projekt Maneo verzeichnete zuletzt 2022 einen deutlichen Anstieg von Gewalttaten und schätzt, dass bis zu 90 Prozent der Fälle gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden. Der Großteil der Vorfälle ereignet sich in der Öffentlichkeit, beispielsweise im Nahverkehr oder auf der Straße. Dabei handelt es sich zumeist um Beleidigungen, Körperverletzungen und Bedrohungen sowie Nötigung – die allermeisten Opfer bis heute sind schwule und bisexuelle Männer. Maneo-Leiter Bastian Finke hatte nach Angriffen auf LGBTI*-Menschen in diesem Jahr während des Berliner CSDs erklärt, man bemerke, dass die Anfeindungen auf der Straße viel offensiver werden. Im ersten Halbjahr 2023 wurden im Rahmen des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen politisch motivierter Kriminalität“ bereits über ein Drittel mehr Fälle erfasst als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, wie die taz berichtet. Die Daten übermittelte erst im September die Senatsinnenverwaltung auf Anfrage der Grünen in Berlin. So verzeichnet die Polizeistatistik von Januar bis Ende Juli 2023 insgesamt 317 Fälle, im gleichen Zeitraum im letzten Jahr waren es 232. Das mag auf den ersten Blick vielleicht wenig erscheinen, bedenkt man allerdings, dass 90 Prozent der Angriffe gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden, zeichnet sich eine andere Lage ab.

Von links nach rechts: Bärbel Bas (Präsidentin des Deutschen Bundestages, SPD), Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Joe Chialo, Berlins Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt (CDU). © Berlin Senatskanzlei

Für die Grünen in Berlin ist der Anstieg vor allem auf die „von Rechten befeuerten Debatten um das Selbstbestimmungsrecht, geschlechtergerechte Sprache und queere Sichtbarkeit in Schulen und öffentlichen Institutionen“ zurückzuführen, wie Ario Mirzaie, Sprecher für Strategien gegen Rechts der Grünen im Abgeordnetenhaus gegenüber der taz weiter ausführt. Zum Teil mag das vermutlich stimmen, doch entspricht es wirklich der ganzen Wahrheit? Immer wieder verfestigte sich in den letzten Jahren unter einer stark linkspolitisch geprägten Stadtregierung der Eindruck, manchmal wollte man gar nicht so genau hinsehen, und zwar immer dann, wenn die Täter von Gewalt gegen LGBTI*-Menschen nicht ins politische Bild passten.

So endete nach 25 Jahren auch die enge Zusammenarbeit zwischen Polizei und Maneo beispielsweise bereits 2021, die anonymisierten Eckdaten zu den Fällen von LGBTI*-bezogener Hassgewalt werden seitdem nicht mehr übermittelt. Der offizielle Grund: Datenschutz. Gleichzeitig wurde bestimmt, dass die Polizei bei Delikten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder Rohheitsdelikte den Migrationshintergrund bei jungen Tatverdächtigen unter 21 Jahren nicht mehr erfassen darf. Kaum neu im Amt,  lieferte dann auch der neue Queer-Beauftragte der Stadt, Alfonso Pantisano, im Interview mit der Welt-Zeitung ein interessantes Schauspiel ab und versuchte verbal alles, um nicht eingestehen zu müssen, dass es in der Regenbogenhauptstadt auch ein Problem mit Gewalt gegen LGBTI*-Menschen gibt, die von jungen migrantischen oder/und muslimischen Jugendlichen mit starker religiöser Prägung ausgeht. Nicht nur, wohlgemerkt, aber eben auch. Für Pantisano gibt es indes „genauso viele Italiener oder Deutsche, die queere Menschen angreifen.“ Im gleichen Atemzug distanzierte sich die Berliner CDU von ihm, weil er u.a. Strafanzeige beim Landeskriminalamt wegen Volksverhetzung gegen Ex-Bild-Chef Julian Reichelt eingereicht hatte – der Grund war unter anderem die Berichterstattung über das geplante Selbstbestimmungsgesetz. Kurz darauf kam es in einer Schwulenbar in Berlin-Schöneberg zu einer Schlägerei. Pantisano besuchte die beiden türkischen Flüchtlinge, die involviert gewesen sein sollen, und warnte online vor Hasskriminalität. Daraufhin drohten die Barbetreiber mit einer Klage wegen Panikmache und Rufschädigung. Die Berliner Zeitung schrieb: „Jeder blamiert sich so gut er kann. Und Alfonso Pantisano kann zumindest das besonders gut. Der Berliner Queer-Beauftragte ist eine Fehlbesetzung.“ Auf mehrere Anfragen von SCHWULISSIMO antwortete der Queer-Beauftragte Pantisano bis heute gar nicht erst – zumindest in puncto Kommunikation mit der Community gibt es also Nachholbedarf.

Ich bin wirklich stolz, dass
Berlin nicht nur eine vielfältige,
bunte Metropole ist, sondern
auch die Regenbogenhauptstadt
Deutschlands.

Im September dann folgte der nächste Paukenschlag, der seitdem für Diskussionen in der Berliner Community sorgt: Die Betreiberin des altehrwürdigen Schwulen- und Lesbenclubs „Die Busche“, Carla Pahlau,  machte ihren Sorgen Luft und schrieb einen Brief an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (51). Der Grund: In direkter Nachbarschaft soll ein Heim für 650 Flüchtlinge entstehen. „In den letzten Monaten erhöhte sich die Zahl der Straftaten gegen homosexuelle Personen in Berlin enorm. Die weitaus überwiegende Zahl der Straftäter sind Migranten mit muslimischem Hintergrund (…) Dies wird mit der Unterkunft zu einer Explosion der Fallzahlen führen“, so Pahlau. Eines stimmt dabei gewiss – das Gefühl von Sicherheit geht in der Berliner Community immer weiter zurück. Was lässt sich dagegen also tun? SCHWULISSIMO fragte exklusiv nach bei Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU).

Herr Wegner, erst einmal herzlichen Dank für das Interview. Sie haben sich in diesem Jahr beim Besuch mehrerer LGBTI*-Veranstaltungen wie beispielsweise dem lesbisch-schwulen Straßenfest ein Bild von der Lage machen können und sind ins Gespräch mit vielen LGBTI*-Menschen gekommen. Mit welchen Anliegen wurden Sie konfrontiert?

Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung zum Gespräch. Ich bin ja seit sehr vielen Jahren im engen Austausch mit der Community. Und ich bin wirklich stolz, dass Berlin nicht nur eine vielfältige, bunte Metropole ist, sondern auch die Regenbogenhauptstadt Deutschlands. Das muss und das wird auch so bleiben. Gleichzeitig gibt es auch bei uns in Berlin Probleme mit Homo- und Transfeindlichkeit. Das ist absolut inakzeptabel – egal ob Pöbeleien, Nötigung oder Gewalttaten. Alle müssen sich in Berlin sicher fühlen, egal woher man kommt oder wen man liebt. Und das gehen wir jetzt mit dem neuen Senat entschlossen an.

Kai Wegner beim diesjährigen Lesbisch-schwulen Stadtfest am Berliner Nollendorfplatz © IMAGO/Future Image

Die Fallzahlen der Hasskriminalität gegenüber LGBTI*-Menschen steigen seit einigen Jahren kontinuierlich an, ein großer Brennpunkt ist dabei Berlin. Immer öfter kommt es vor, dass ganze Stadtviertel oder Ecken in Berlin für LGBTI*-Menschen zu „No-Go-Areas“ werden, gerade in den Abendstunden – für die selbsternannte Regenbogenhauptstadt Deutschlands kein gutes Aushängeschild. Was kann hier konkret getan werden?

Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Und zur Wahrheit gehört, dass vieles in der Vergangenheit viel zu lange hingenommen wurde. Damit ist jetzt Schluss. Wir haben eine ganze Reihe Maßnahmen auf den Weg gebracht, damit unsere Stadt sicherer wird und zwar für alle. Es darf in Berlin keine Angsträume, oder wie Sie sagen, No-Go-Areas geben. Deshalb werden wir gerade dort, wo es zu Gewalttaten oder Anfeindungen kommt, die Polizeipräsenz verstärken. Oft sind das die Parks oder auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Wir werden auch mit mehr und besserer Beleuchtung und mit Videoüberwachung dafür sorgen, dass nicht nur das Sicherheitsgefühl steigt, sondern dass Berlin auch tatsächlich sicherer wird. Aber das allein genügt nicht. Wir müssen, schon bevor es überhaupt zu Gewalt kommt, ansetzen. Deshalb sind wir in engem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Projekten, um wirksam und vor allem wirklich nachhaltig gegen Hass vorzugehen.

Gewalt gegenüber LGBTI* kommt zumeist aus zwei Richtungen – Rechtsextremismus sowie Gewalt aus religiös motivierten Gründen, konkret mit islamischem und/oder muslimischem Hintergrund. Der neue Queer-Beauftragte von Berlin, Alfonso Pantisano, hatte die letztgenannten Gründe in einem Interview heruntergespielt – das brachte ihm viel Kritik ein. Die Berliner CDU distanzierte sich von ihm. Wie kann ein Queer-Beauftragter die Belange der Community vertreten, wenn er offenbar eines der wichtigen Probleme nicht einmal klar formulieren und benennen kann oder will.

Zunächst einmal bin ich sehr froh, dass Berlin jetzt einen Queer-Beauftragten hat, der sich als Ansprechperson um die Community und ihre Belange kümmert. Das hat es mit der Vorgängerregierung nicht gegeben. Und ich finde, dass gerade Berlin in der Pflicht steht, sich regelmäßig mit den queeren Communities zu treffen, damit sie offen über Probleme und Entwicklungen sprechen können. Denn wir können Probleme nur dann lösen, wenn wir sie offen ansprechen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt und die Arbeit jetzt läuft.

In der Vergangenheit wurden
Probleme einfach viel zu lange
hingenommen. Auch der
Umgang mit der Polizei war alles
andere als vertrauensvoll.

Lassen Sie mich noch einmal nachfragen, wie lässt sich Ihrer Meinung nach gerade das Problem mit jungen Männern mit starker religiöser Prägung in Berlin besser in den Griff bekommen? Das Problem ist ja nicht ganz neu, der Verein DEVI hat bereits auf massive Probleme an Schulen im Bezirk Neukölln hingewiesen, 2020 unterzeichneten auch 400 Berliner Pädagogen einen Offenen Brief und kritisierten den Einfluss des „politischen Islams“.

Dieser Senat hat eine klare Haltung, dass wir keine Gewalt und keinen Hass gegen queere Menschen dulden - egal aus welcher Richtung. Und natürlich geht es auch um Integration. Gerade die vergangene Silvesternacht hat doch gezeigt, dass viele der Täter in zweiter oder dritter Generation Deutsche sind – das sind ja Kinder und Jugendliche unserer Stadt. Deshalb setzen wir einerseits auf einen konsequenten Rechtsstaat. Täter müssen schnell ermittelt und bestraft werden. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wir müssen auch mit Prävention dafür sorgen, dass solche Taten gar nicht erst passieren. Wir müssen gerade junge Männer, die sich abgehängt fühlen, mit Aufklärung und Bildung besser erreichen. Und wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass sie Chancen in unserer Gesellschaft haben. Nur so können wir sie wieder für unsere Gesellschaft und damit für unsere Regeln, unsere Werte und unseren Rechtsstaat gewinnen. Und das machen wir jetzt.

Wie würden Sie inzwischen ihre Zusammenarbeit mit Herrn Pantisano beschreiben? Immerhin hatte noch im Juli ihr Parteikollege Dirk Stettner erklärt, Herr Pantisano agiere nicht im Namen des Landes Berlin und auch nicht im Namen von Ihnen als Regierenden Bürgermeister. Das war auf die Strafanzeige gegen Journalisten gemünzt, spricht aber nicht gerade für eine gute weitere Zusammenarbeit, oder?

Der Queer-Beauftragte ist ein Bindeglied zwischen Senat und Verwaltungen auf der einen Seite und Betroffenen und Community auf der anderen Seite. Er steht in den Diensten des Landes Berlin, aber er spricht nicht für das Land Berlin. Das macht die Regierung. Aber nochmal: Ich finde es gut, dass Berlin endlich einen Queer-Beauftragten hat.

Sehnsuchtsort Berlin – für viele Homosexuelle und queere Menschen ist die Regenbogenhauptstadt bis heute die erste Wahl. Doch der Schein trügt, zumindest teilweise. © IMAGO/Eloi_Omella

Bleiben wir noch kurz beim Thema Sicherheit in der Stadt: Ihr Parteikollege Matthias Steuckardt erklärte im Interview mit uns zu Beginn des Jahres, dass das Thema fehlende Sicherheit selbst im schwul-lesbischen Kiez ein wesentlicher Punkt ist. Bei der Wiederholungswahl konnte die CDU in Berlin dann massiv Stimmen hinzugewinnen, auch in mehreren LGBTI*-Bezirken, die zuvor praktisch ausnahmslos mehrheitlich politisch grün waren. Was kann die CDU hier in Berlin jetzt besser machen, wenn es um die Sicherheit der Community geht im Vergleich zur Vorgängerregierung?   

Menschen aus der queeren Community nehmen die Zustände in unserer Stadt ja nicht anders wahr als alle anderen Berlinerinnen und Berliner. Und in der Vergangenheit wurden Probleme einfach viel zu lange hingenommen. Auch der Umgang mit der Polizei war alles andere als vertrauensvoll. Aber solche Politik ist nicht dafür geeignet, die tatsächlichen Probleme der Menschen zu lösen. Der Görlitzer Park zum Beispiel ist heute so etwas wie ein Symbol für falsch verstandene Toleranz geworden, weil die damals Verantwortlichen - egal ob im Bezirk oder im Land - die Realität nicht anerkennen wollten. Damit meine ich nicht, dass man nur hart durchgreifen muss und dass sich dann alles wie von selbst löst. Aber weiche und harte Maßnahmen gehören zusammen, und auch polizeiliche Maßnahmen müssen vorurteilslos diskutiert und angewendet werden.  

Vor zehn bis zwanzig Jahren stand die CDU gerade auf Bundesebene bei vielen Schwulen und Lesben zumeist nicht hoch im Kurs, gerade auch im Verbund mit der CSU, die damals noch aktiv gegen die gleichgeschlechtliche Ehe wetterte. Inzwischen habe ich den Eindruck, die CDU hat zumindest teilweise ihre „homophoben Altlasten“ aufgearbeitet, das zeigt sich an der Berliner CDU und ihren LGBTI*-Projekten. Wie bewerten Sie das für die CDU insgesamt?

Die Union ist die große Volkspartei der Mitte. Und als solche bleibt sie niemals an einer Stelle stehen. Sie durchläuft einen ständigen Lernprozess. Und gerade in den letzten Jahren ist sehr vieles auf dem Gebiet passiert. Beim letzten Parteitag wurde zum Beispiel die Lesben- und Schwulen-Union zur Sondervereinigung aufgewertet - etwas wofür ich mich als Landesvorsitzender bereits seit vielen Jahren persönlich eingesetzt habe, genauso wie für die Ehe für alle. Die LSU ist jetzt im Bundesvorstand vertreten und hat Antrags- und Rederecht. Aber natürlich gibt es noch viel zu tun.

Dieser Senat hat eine klare Haltung,
dass wir keine Gewalt und keinen
Hass gegen queere Menschen dulden -
egal aus welcher Richtung.

Ein großes Projekt der Ampel-Koalition ist die Ergänzung des Grundgesetzes 3.3 um die „sexuelle Identität“. Sie haben sich in diesem Jahr beim Berliner CSD dafür ausgesprochen, ebenso zuvor Ihr Kollege, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Damit das Vorhaben wirklich umsetzbar ist, braucht es weitere Stimmen von Unions-Abgeordneten, gerade auch im Bundestag. Wie realistisch schätzen Sie das Vorhaben aktuell ein?

Natürlich stehe ich auch zu diesem Thema im Austausch. Hier in Berlin, der bunten und vielfältigen Metropole Deutschlands, haben wir es da in vieler Hinsicht leichter, als es andere Städte und Regionen unseres Landes haben. Ich war lange genug im Bundestag, um zu wissen, dass Grundgesetzänderungen immer langwierige Prozesse vorausgehen. Das wird auch in diesem Fall so sein. Aber wie heißt es so schön: Steter Tropfen höhlt den Stein.

Einige Unionspolitiker tun sich bis heute mit dem Begriff der „Identität“ schwer, weil er juristisch nicht klar zu fassen ist. Sie würden sich eher eine Begrifflichkeit wie die „sexuelle Orientierung“ wünschen. Ihre Einstellung dazu?

Ich setze mich auf Bundesebene für die Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes um das Merkmal der sexuellen Identität sowie für ein modernes Selbstbestimmungsrecht ein. Für mich ist es wichtig, dass wir eine zufriedenstellende Gesamtlösung bei der Formulierung finden. Und das ist, wie bei solchen Prozessen üblich, ein Ergebnis der Diskussionen. Diese Auseinandersetzungen sind wichtig, weil sie bei allen Beteiligten Bewusstsein und Verständnis verändern und idealerweise die Fronten zusammenführen.

Wir müssen gerade junge Männer,
die sich abgehängt fühlen, mit
Aufklärung und Bildung besser erreichen.

Ein weiteres, viel diskutiertes Thema ist das geplante Selbstbestimmungsgesetz, das wahrscheinlich im November 2024 in Kraft treten soll. Mehrere CDU-Politiker haben sich gegen das Vorhaben in seiner aktuellen Ausarbeitung ausgesprochen und kritisieren beispielsweise einen möglichen Geschlechtswechsel bei Jugendlichen, gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern. Ähnliche Befürchtungen werden nicht nur von Frauenverbänden sondern auch von einigen schwul-lesbischen Vereinen geäußert. Können Sie die Bedenken verstehen?

Ich habe den Eindruck, dass die Scholz-Regierung wie bei so vielen Themen zu wenig vorab auf einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs setzt. Die gesellschaftliche Debatte muss bei solchen Themen breit geführt werden. Politik muss in einer Demokratie auch gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen wollen. Das wurde seitens der Ampel einmal mehr bei diesem Thema versäumt.

Sie haben sich in diesem Jahr auch gegen die Gender-Sprache in der Verwaltung ausgesprochen. Halten Sie die Debatten darüber manchmal für einen „Sturm im Wasserglas“ oder wie blicken Sie auf dieses Streitthema, das alle paar Monate von neuem hochkocht?

Was sie sagen, ist nicht ganz richtig. Ich selbst nutze keine Gender-Sprache, sondern ich spreche beispielsweise meine „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ an. Und für mein Haus, die Senatskanzlei, gilt, dass wir von Seiten der Hausleitung keine Vorgabe an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen, dass sie auf Formen des Genderns verzichten müssen. Ich habe den Eindruck, dass damit alle im Alltag gut leben können. Und am Ende zählt doch einzig und allein, dass die Menschen einander gut verstehen können.

Herr Wegner, vielen Dank für das Gespräch.

 U-Bahnhof am Nollendorfplatz – Ausgangspunkt in den schwul-lesbischen Kiez. © iStock/Mickis-Fotowelt

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