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Kleine Fortschritte, viel Gewalt
Rubrik

Kaum Fortschritte, viel Gewalt Extreme Zunahme von Mobbing und Hass gegenüber LGBTI*-Schülern

ms - 14.05.2024 - 10:00 Uhr

Die dritte LGBTI*-Studie der EU-Grundrechteagentur zeigt jetzt auf, dass Homosexuelle und queere Menschen in Europa bis heute massiver hassmotivierter Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind, wenngleich es mancherorts auch Fortschritte und positive Entwicklungen gibt. Immer mehr Menschen trauen sich so auch, offen über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen. 

Mehr Sichtbarkeit, mehr Hass

Die FRA-Erhebung ist eine der größten ihrer Art weltweit, dazu wurden 100.000 LGBTI*-Menschen im Alter ab 15 Jahren in 27 EU-Ländern sowie in Albanien, der Republik Nordmazedonien und Serbien befragt. Alle fünf Jahre erhebt die EU-Grundrechteagentur die Daten neu, zuletzt also 2019. „Mehr LGBTI*-Personen in Europa gehen heute offen mit ihrem Selbstverständnis um. Gleichzeitig sind sie mehr Gewalt, Belästigung und Mobbing ausgesetzt als früher. Dies gilt insbesondere für jüngere LGBTI*-Menschen, die besonders gefährdet sind“, so ein zentrales Ergebnis der Untersuchung. 

Die weiteren Entwicklungen zeigen Anzeichen für langsame, aber allmähliche Fortschritte. Die Diskriminierung von LGBTI*-Menschen ist zwar nach wie vor hoch, nimmt aber allmählich ab. Schulen gehen positiver und proaktiver mit LGBTI*-Themen um, und junge Menschen fühlen sich von ihren Lehrern und Gleichaltrigen stärker unterstützt. Dennoch sind Mobbing, Belästigung und Gewalt besorgniserregend stark angestiegen.

Die Fakten im Detail

Mehr als jeder Zweite (51% aller Befragten, 60% in Deutschland) geht inzwischen offen mit seiner sexuellen Orientierung oder seiner Geschlechtsidentität um. Eine knappe Mehrheit (53% aller Befragten, 40% in Deutschland) vermeiden es jedoch immer noch, in der Öffentlichkeit mit ihrem gleichgeschlechtlichen Partner Händchen zu halten, aus Angst, angegriffen zu werden. Die Sorgen sind offenbar auch berechtigt, denn mehr als jede dritte Personen (37% aller Befragten, 38% in Deutschland) wird in ihrem Alltag diskriminiert. Am Arbeitsplatz erlebt noch jeder fünfte LGBTI*-Mensch (19%) sowohl in der EU wie auch speziell in Deutschland Diskriminierung – im Gesundheitswesen sind es 16 Prozent (EU: 14%).  

90 Prozent der Angriffe werden nie angezeigt

Und nach wie vor werden dabei 89 Prozent der Fälle gar nicht erst offiziell dokumentiert, da sie nie gemeldet oder angezeigt werden. In Deutschland kommen sogar 90 Prozent nie zur Anzeige. Die Gewalt gegenüber LGBTI*-Menschen hat in den letzten Jahren sogar noch zugenommen, 13 Prozent der Befragten war davon betroffen, noch mehr sogar in Deutschland (16%).  

Stark zugenommen haben in den letzten fünf Jahren auch Belästigungen, jeder zweite LGBTI*-Mensch erlebte hassmotivierte verbale Angriffe. Blickt man allein auf das letzte Jahr, zeigt sich, dass diese Entwicklung weiter an Brisanz zunimmt: Hier wurden sogar 57 Prozent in Deutschland (in der ganzen EU 54%) belästigt. Fast jeder Dritte (29%) meidet so inzwischen aus Angst auch bestimmte Orte, in Deutschland ist es jeder fünfte LGBTI*-Mensch (21%).

Mobbing an Schulen nahm um 56 Prozent zu

Noch dramatischer zeichnet sich das Thema Mobbing an Schulen ab – bedauerlicherweise in allen EU-Ländern und allen Altersstufen. Zwei von drei LGBTI*-Schülern werden gemobbt, obwohl LGBTI*-Themen an Schulen heute stärker präsent sind; rund 20 Prozent der Schulen in Europa nehmen sich positiv LGBTI*-Aspekten an. Nie angesprochen wird LGBTI* in Europa in 62 Prozent der Fälle an Schulen, in Deutschland sind es sogar 66 Prozent.  

Blickt man ins Detail, zeigt sich, wie massiv sich die Situation verschärft hat: In der EU erlebten 67 Prozent der LGBTI*-Schüler Mobbing, Spott, Hänseleien, Beleidigungen oder Drohungen – in Deutschland waren es sogar 70 Prozent. Vor fünf Jahren lag dieser Wert noch bei 43 Prozent – eine Zunahme von rund 56 Prozent in fünf Jahren. 

Die Lage ist damit extrem besorgniserregend, denn so hat auch jeder dritte Schüler bereits ernsthaft über Selbstmord nachgedacht. Umgelegt auf alle LGBTI*-Befragten, haben sich 12 Prozent mit dem Thema Suizid beschäftigt (Deutschland: 11%). 24 Prozent der Schüler werden bis heute außerdem dazu gezwungen, sich Konversionstherapien zu unterziehen, um die sexuelle Orientierung „zu heilen“. In Deutschland haben 28 Prozent ein solches Verfahren erlebt. 

Rund jeder zweite Schüler (49% aller Befragten, 52% in Deutschland) versteckt dann logischerweise sein LGBTI*-Sein auch in der Schule. Nur knapp jeder Dritte von ihnen (32% aller Befragten, 28% in Deutschland) erlebt überhaupt Unterstützung an der Schule. 

Wenig Vertrauen in die Regierung

Auch der Blick auf die eigene Regierung fällt eher betrüblich aus: Gerade einmal jeder Vierte LGBTI*-Mensch (26%) in Europa ist der Ansicht, dass die eigene Regierung tatsächlich aktiv Vorurteile und Intoleranz gegenüber Homosexuellen und queeren Menschen bekämpft. 65 Prozent der LGBTI*-Menschen in Deutschland sagen, dass die Gewalt gegenüber der Community zugenommen hat (EU: 59%); 55 Prozent nehmen auch verstärkt Vorurteile und Intoleranz wahr (EU: 53%). 

Forderung nach „Kultur der Nulltoleranz“ gegenüber Gewalt

Ein Kernziel der Umfrage ist es, der EU-Kommission als Bewertungsgrundlage für weitere Strategien zu dienen, die darauf abzielen, LGBTI*-Akzeptanz und Gleichstellung voranzutreiben. Die FRA fordert dabei explizit, beim Thema Hassverbrechen eine „Kultur der Nulltoleranz gegenüber Gewalt und Belästigung von LGBTI*-Menschen“ durchzusetzen. Auch online gilt es dabei, gegen Desinformationskampagnen gezielter vorzugehen. Zudem müsse die EU stärker Diskriminierung bekämpfen und auf die Umsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie achten. 

Mit Blick auf die Bildungseinrichtungen sollte die EU dazu beitragen, an Schulen ein sicheres und unterstützendes Lernumfeld zu schaffen, Mobbing mit mehr Nachdruck zu bekämpfen und das Thema LGBTI* auch sichtbar in Lehrplänen zu verankern.  

FRA-Direktorin Sirpa Rautio dazu abschließend: „Offenes LGBTI*-Sein in Europa sollte kein Kampf sein. Auch wenn es Anzeichen für Fortschritte gibt, bleiben Mobbing, Belästigung und Gewalt eine ständige Bedrohung. Es ist an der Zeit, entschlossen zu handeln und auf den Fortschritten aufzubauen, die wir gemacht haben, damit alle Menschen in der EU gleich behandelt werden und mit Würde und Respekt leben können.“

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