„Wir sind kaum sichtbar“ Julia Shaw über die wissenschaftliche Seite von Bisexualität
Dr. Julia Shaw ist Rechtspsychologin. Mit „Bi – Vielfältige Liebe entdecken“ brachte sie vor wenigen Monaten ihr drittes Buch auf den Markt. In diesem Werk schreibt sie über Bisexualität und was die Wissenschaft dazu sagt. Und darüber, wie sie ihre eigene Sexualität entdeckte.
Massiv unterrepräsentiert
Im Vergleich zu anderen sexuellen Orientierungen ist Bisexualität stark unterrepräsentiert. Deshalb ist Sichtbarkeit laut Shaw so wichtig. Bisexuelle Menschen seien „meistens nicht out“. Im Vergleich zu schwulen und lesbischen Personen seien sie daher auch mit ihrer Sexualität eher allein. Wären Bisexuelle sichtbarer, würden sich vielleicht mehr Menschen trauen, offen zu sein.
Dazu müsse Bisexualität aber auch innerhalb der LGBTI*-Community sichtbarer werden. Shaw kritisierte Shaw gegenüber Stern: Wir sollten „über jede einzelne Farbe des Regenbogens sprechen“. Doch leider werde Bisexualität dabei oft außen vor gelassen. „Das merken bisexuelle Menschen natürlich. Wir fehlen in der sichtbaren queeren Welt, obwohl wir eigentlich die größte sexuelle Minderheit sind.“
Dass mehr Frauen als Männer offen bisexuell sind, hat laut Shaw auch mit den Unterschieden in der öffentlichen Wahrnehmung zu tun: „Wenn bisexuelle Frauen daten, dann sagen die meisten Männer ‚cool‘. Weil sie direkt denken, dass die Frau das nur macht, um ihn anzumachen. Bei Bi-Männern hingegen ist es vor allem das Klischee, dass sie in Wirklichkeit schwul sind.“
Zwischending oder eigene Sache?
„Bisexualität fühlt sich für viele oft so an, als sei das eben halb-schwul oder halb-lesbisch“, erklärt Shaw. Daher werde Bisexualität oft nicht als eigene sexuelle Orientierung wahrgenommen, sondern „als etwas, das sich irgendwo zwischen heterosexuell und homosexuell bewegt“.
Schnell stelle sich der Gedanke ein: „Wir wissen, was schwul und lesbisch ist, also wissen wir automatisch auch, was bisexuell ist. Aber das stimmt nicht.“ Stattdessen definiert Shaw Bisexualität konkret als „sexuelle und/oder romantische Anziehung zu mehreren Geschlechtern“.
Oft abgetan
„Es gibt viele Menschen, die schonmal was mit dem gleichen Geschlecht hatten, sich aber trotzdem nicht als bisexuell identifizieren“, so Shaw. „Das wird dann oft als Phase abgestempelt. Hetero sein ist oft sicher, deshalb bleiben viele Menschen lieber dabei, statt sich als bisexuell zu identifizieren.“ Shaw erklärt außerdem: „Die sexuelle Orientierung ist nicht statisch. Wir verändern uns ständig, und damit auch unsere Sexualität.“
Außerdem weist Shaw daraufhin, dass Monogamie nicht „die einzige Option für eine Liebesbeziehung ist“, auch wenn es uns von der Gesellschaft so suggeriert werde. Wenn man sich die vielen Menschen anschaue, die in einer monogamen Beziehung fremdgehen, werde klar: Die Leute müssten viel offener über ihre Bedürfnisse sprechen, um glücklich zu sein.
Vom Coming-out zur Gemeinschaft
Shaw selbst habe immer gewusst, dass sie nicht hetero ist. Viele Menschen merkten allerdings erst im Erwachsenenalter, dass sie bisexuell sind. Wer das Label benutzen möchte, der solle es einfach tun: „Man kann nur selbst wissen, welche Menschen man sexuell oder romantisch attraktiv findet.“ Dabei betont Shaw ganz deutlich: „Man kann bisexuell sein, ohne jemals was mit dem eigenen Geschlecht gehabt zu haben.“
Ihr eigenes Coming-out hatte Shaw schließlich mit 30 Jahren in ihrem zweiten Buch „Böse – Die Psychologie unserer Abgründe“ und nach dessen Veröffentlichung auch in den sozialen Medien. Dadurch fand sie zahlreiche Gleichgesinnte: „Ich habe also eine tolle Community dazugewonnen. Und ich wusste bis dahin gar nicht, dass mir das gefehlt hat. Aber es ist so schön, sich mit Menschen auszutauschen, denen es ähnlich geht wie einem selbst.“
So entsteht LGBTI*-Feindlichkeit
Laut Dr. Shaw gibt es in Bezug auf LGBTI*-feindlichen Tendenzen „auf jeden Fall kulturelle und religiöse Zusammenhänge“. In Regionen, die „Familie“ als oberstes Gut betrachten, wolle man eigentlich „nur eine Konstellation sehen: Mann, Frau und Kind(er)“.
Zu Anfeindungen von LGBTI*-Personen käme es dann, wenn Menschen sich durch diese „ihnen fremde Form der Liebe angegriffen fühlen“. Wenn also ihr eigenes „Heile-Welt-Bild dadurch ins Wanken gerät“ oder weil sie an ihre eigenen verdrängten bisexuellen Tendenzen erinnert werden.
Über Dr. Shaw
Ihren großen Durchbruch hatte Shaw mit ihrem ersten Buch „Das trügerische Gedächtnis – Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“, das 2016 international zum Bestseller wurde. Außerdem verfasst sie regelmäßig Beiträge für den Mind Guest Blog des „Scientific American“ und führt seit Januar 2022 den True-Crime-Podcast „Böse“ mit Sängerin und Songwriterin Jazzy Gudd.