Reaktion zum Koalitionsvertrag Queere Vereine und Akteure aus der Community gehen mit dem Papier von Union und SPD hart ins Gericht
Gestern Abend präsentierte die Union und die SPD ihren Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre – die LGBTIQ+-Community wird dabei nur in drei Bereichen benannt. Neben der grundsätzlichen Einbeziehung queerer Menschen im Gesundheitswesen soll verstärkt gegen Diskriminierung vorgegangen werden. Das Selbstbestimmungsgesetz soll indes überprüft und höchstwahrscheinlich überarbeitet werden. Die ersten Reaktionen aus der Community fallen nun größtenteils sehr verhalten aus.
Koalitionsvertrag „schadet Deutschland“
Der bisherige Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, erklärte über Bluesky: „Es wird kälter in Deutschland. Der Koalitionsvertrag von CDU,CSU und SPD ist in einigen Bereichen Spaltpilz für unsere Gesellschaft. Gesellschaftspolitische Erfolge der letzten Jahre werden infrage gestellt, Misstrauen gegenüber unliebsamen Gruppen und der demokratischen Zivilgesellschaft hält Einzug. Union und SPD reden von ´Weltoffenheit´ und ´Einwanderungsland´ – doch der Koalitionsvertrag zeichnet ein anderes Bild: Grenzkontrollen, Ende des Familiennachzugs, Ende des Aufnahmeprogramms Afghanistan, Ende der schnellen Einbürgerungen. Union & SPD wollen uns abschotten. Das schadet Deutschland. Der Koalitionsvertrag wird den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht.“ Das Amt des Queer-Beauftragten wird es in der neue Regierung höchstwahrscheinlich nicht mehr geben.
Ende des Aufnahmeprogramms
Kritik am Ende des Aufnahmeprogramms kommt auch von der Rainbow Afghanistan Organisation, einem Verein speziell für LGBTIQ+-Flüchtlinge aus dem Land. Exekutiv-Direktor Ali Tawakoli erklärte dazu gegenüber SCHWULISSIMO: „Mit großer Besorgnis und Enttäuschung blicke ich auf die jüngsten Entscheidungen der deutschen Regierung, die gravierende Auswirkungen auf die LGBTIQ+ -Flüchtlinge und Migranten haben werden. Viele dieser Menschen fliehen aufgrund ernster Bedrohungen und der Gefahr des Todes in ihren Heimatländern nach Deutschland, um Schutz und Sicherheit zu finden. Die jüngsten Entscheidungen jedoch haben die Lage für sie dramatisch verschärft. Eine der besorgniserregendsten Entscheidungen dieses Koalitionsvertrages betrifft die Streichung des freiwilligen Aufnahmeprogramms für Flüchtlinge im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und den Vereinten Nationen. Zudem gab das Bundesministerium des Innern bekannt, dass der Aufnahmeprozess für Flüchtlinge im Rahmen des UN-Resettlement-Programms ausgesetzt wird. Dies bedeutet das Ende der Hoffnung für jene, deren Leben ernsthaft in Gefahr ist, besonders für LGBTIQ+-Personen aus islamischen Ländern, in denen Homosexualität strafbar ist und mit der Todesstrafe geahndet wird.“
Zudem, so Tawakoli weiter, betreffe die Entscheidung rund um das BAP-Aufnahmeprogramm der Bundesregierung für Afghanistan auch jene queeren Menschen, die bereits auf der Flucht sind: „Zahlreiche LGBTIQ+-Personen aus Afghanistan, die von Menschenrechtsorganisationen für dieses Programm registriert wurden und nun in Pakistan und Afghanistan auf eine Antwort der deutschen Regierung warten, sind nun in höchster Gefahr. Dies bedeutet die Aufgabe von hunderten von LGBTIQ+-Menschen, die in Gefahr laufen, von den Taliban mit dem Tod, der Steinigung oder der Hinrichtung bestraft zu werden. Diese Entscheidung stellt sowohl die Integrität als auch die Glaubwürdigkeit der deutschen Bundesregierung infrage.“
Ähnlich sieht das auch der Verband Queere Vielfalt (LSVD+): „Der Koalitionsvertrag bringt queere Geflüchtete in Lebensgefahr (…) Wir erwarten, dass alle bereits nach Pakistan evakuierten LSBTIQ*, die in dem Aufnahmeprogramm registriert sind, bis zu Ende bearbeitet und bei erwiesener Gefährdung auch nach Deutschland ausgeflogen werden“, so Erik Jödicke aus dem Bundesvorstand.
LSVD+ warnt vor SBGG-Änderungen
Grundsätzlich begrüßt der LSVD+, dass das Bundesprogramm “Demokratie leben” erhalten bleibt, betont aber auch hier: „Angesichts der jährlich steigenden Zahl von Angriffen auf LSBTIQ* Personen muss allerdings das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhalten bleiben und der Aktionsplan ´Queer leben´ fortgeführt werden. Außerdem warnen wir davor, das Selbstbestimmungsgesetz jetzt ohne Not anzufassen und Verschlechterungen zu riskieren. Trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen haben sich jahrzehntelang für diesen Meilenstein eingesetzt“, so Erik Jödicke aus dem Bundesvorstand. Darüber hinaus betont der Verein nochmals auch die Reform des Abstammungsrechts für lesbische Paare, die im Koalitionsvertrag keine Erwähnung findet. „Das Abstammungsrecht muss als eines der ersten Vorhaben der Bundesregierung geändert werden. Wer das Kindeswohl als Maßstab nimmt, muss die Diskriminierung der Kinder aller queerer Eltern aufgrund deren Geschlechts und Familienmodells endlich beenden“, bekräftigt Jödicke weiter.
Die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit dgti findet noch klarere Worte zur möglichen Überarbeitung des Selbstbestimmungsgesetzes: „Im Koalitionsvertrag wird sichtbar, dass die zum Teil aus den USA geförderten Hass- und Desinformationskampagnen den Diskurs soweit vergiftet haben, dass man für Kinder und Jugendliche eine imaginäre Gefahr sieht, um die man sich kümmern müsse (…) Wir fordern daher ausdrücklich die grundsätzliche gesetzliche Verankerung eines Anspruchs auf selbstbestimmte geschlechtsangleichende Maßnahmen im SGB V – für alle trans*, inter* und nicht-binären Personen, einschließlich einwilligungsfähiger Minderjähriger, sofern sie medizinisch angezeigt sind.“
FDP: „Null-Nummer für queere Menschen“
Kritik am Koalitionsvertrag kommt auch von Seiten der FDP, der Bundesvorsitzende der Liberalen Schwulen, Lesben, Bi, Trans und Queer (LiSL), Michael Kauch, erklärte: „Mit Ausnahme warmer Worte gegen Diskriminierung und vorsichtiger Ansprache queerer Gesundheit findet sich im Koalitionsvertrag für die Community: nichts! Die Sozialdemokraten haben offenkundig nicht ernsthaft für LSBTIQ verhandelt, sondern andere Themen als Prioritäten gehabt. Frühere Wahlperioden haben gezeigt, dass auch in einer Koalition mit CDU und CSU mehr möglich gewesen wäre.“ Der Koalitionsvertrag sei laut Kauch eine „Null-Nummer für queere Menschen.“
Amnesty: Armutszeugnis und Heuchelei
Ähnlich bewertet auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Koalitionsvertrag, er sei ein „menschenrechtliches Armutszeugnis“. Generalsekretärin Julia Duchrow: „Der Koalitionsvertrag spricht von einer 'Zeitenwende in der inneren Sicherheit'. Was die Koalition darunter versteht, ist jedoch das Gegenteil von Sicherheit: Sie bedient rassistische Feindbilder, instrumentalisiert das Aufenthalts- und Migrationsrecht, bläht Überwachung auf und greift die Zivilgesellschaft an. Union und SPD wollen offensichtlich Angst schüren und die Gesellschaft spalten, um den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu rechtfertigen. Wir wissen, dass das keine Sicherheit bringt. Wer Sicherheit will, muss Menschenrechte verwirklichen.“ Gerade im Bereich der Asylpolitik sei die neue Politik von Union und SPD „Heuchelei“.
Hoffnung auf bessere Zeiten
Der Gründer der schwulen Organisation JustGay, Florian Greller, blickt positiver in die Zukunft und erklärte gegenüber SCHWULISSIMO: „Wir haben mit Blick auf die neue Regierung und den Koalitionsvertrag zwei Hoffnungen: Zum einen wird die politische Ausgrenzung und Diskriminierung von schwulen Männern seitens der Ampel-Regierung beendet und zum anderen haben wir die Hoffnung, dass mit einer Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes alle Beteiligten und Betroffenen gleichberechtigt an einen Tisch gebracht werden, um gemeinsam gute Lösungen für alle zu suchen und zu finden. Sex und Gender müssen sich im gegenseitigen Respekt nicht ausgrenzen. Wir hoffen also auf bessere Zeiten mit einer neuen Regierung.“
Linke queer befrüchtet nichts Gutes
Die Linke queer attackiert indes die neue Regierung und die Pläne für die kommenden Jahre. Daniel Bache, Frank Laubenburg, Luca Renner und Maja Tegeler von Linke queer erklären so: „Die SPD zeigt im Bündnis mit der Union einmal mehr, was ihr ihre Wahlversprechen wert sind. Steuerliche Schonung von Reichen, Schikane gegen Menschen ohne Erwerbsarbeit und Sozialabbau sind wesentliche Züge des neuen Regierungsprogramms. Dass die Union Schlüsselressorts besetzen konnte, lässt nichts Gutes erahnen – auch und gerade mit Blick auf die Queerpolitik (…) In dem Vertragswerk selbst gibt sich die kommende Regierung ausgesprochen schmallippig, was die Belange von LSBTIQ* angeht. Das mag in Teilen daran liegen, dass es in beiden Parteien an queerpolitisch kompetentem Personal fehlt, spiegelt aber vor allem die Prioritätensetzung der Merz-Regierung wider.“ Das Fazit der Organisation: „Die Ampel hat einen queerpolitischen Aufbruch versprochen, aber nicht geliefert. Schwarz-Rot macht nicht einmal mehr wohlklingende Versprechen.“