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HIV-Versorgung in Deutschland

HIV-Versorgung in Deutschland Drei Organisationen warnen vor teilweisem Zusammenbruch der Fachärzte-Versorgung für HIV-Patienten

ms - 10.07.2025 - 16:00 Uhr
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Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin, kurz dagnä, hat heute in Berlin zusammen mit der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS) ein neues Gutachten zur medizinischen Versorgung von Menschen mit HIV veröffentlicht. Die eindringliche Warnung: In den kommenden Jahren könnte es zu erheblichen Versorgungsengpässen kommen; bereits 2035 könnten dabei über 130 spezialisierte HIV-Ärzte fehlen – das entspricht 26 Prozent der benötigten HIV-Spezialisten in der Bundesrepublik. 

Starke Nachfrage nach HIV-Spezialisten  

Die Studie wurde vom IGES Institut in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung durchgeführt – dabei wurden sowohl Krankenhausberichte wie auch Abrechnungsdaten und eine bundesweite Befragung von Menschen mit HIV einbezogen. Aktuell werden in Deutschland demnach rund 80 Prozent der HIV-positiven Menschen erfolgreich von Ärzten behandelt, die auf das HI-Virus spezialisiert sind. Die Behandlung erfolgt zumeist in HIV-Schwerpunktpraxen. Dabei stieg allerdings die Zahl der Patienten, die einer spezialisierten Versorgung bedürfen, binnen von zehn Jahren um 38 Prozent an. In absoluten Zahlen: Von rund 49.500 Menschen auf 68.500 Personen. 

Altersdurchschnitt bei HIV-Menschen wird zum Problem

Die neue Studie belegt dabei: Der Trend wird weiter anhalten, sodass bereits 2035 rund 96.500 Menschen mit HIV eine Behandlung von einem medizinischen Experten benötigen. Ein Anstieg um 44 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre. Grund dafür ist die simple Tatsache, dass immer mehr HIV-Patienten immer älter werden und sich so zur allgemeinen HIV-Behandlung auch noch altersbedingte Begleiterkrankungen und Stoffwechselstörungen gesellen – ein Facharzt ist dann zwingend erforderlich, um eine bestmögliche Behandlung weiterhin zu gewährleisten. Verschärft wird die Situation einerseits dadurch, dass die Zahl der HIV-Schwerpunktpraxen seit geraumer Zeit stagniert und andererseits sich immer Praxen zu sogenannten medizinischen Versorgungszentren (MVZ) zusammenschließen – ältere Menschen mit HIV im ländlichen Raum könnten da in Zukunft immer radikaler das Nachsehen haben. 

DAS-Vorstandsvorsitzende Anne von Fallois: „Als zentrales Ergebnis des Gutachtens zeigt sich, dass der Zugang zur spezialisierten Versorgung besonders für ältere Menschen mit HIV eine der größten Herausforderungen für die Zukunft darstellt. Es wird zu wenige Schwerpunktpraxen für immer mehr und immer ältere Patienten geben. Wir müssen dafür sorgen, dass der Zugang zur spezialisierten HIV-Versorgung auch in Zukunft sichergestellt ist. Unabhängig von Region, Alter, Geschlecht oder sonstigen Faktoren sollten Menschen mit HIV weiterhin die bestmögliche Versorgung finden. Und: Wir brauchen weiterhin psychosoziale Unterstützungsangebote, wie sie etwa die Aids-Hilfen anbieten.“

Immer weniger HIV-Fachärzte

Dazu komme überdies noch die generelle Ausbildungslage im Bereich HIV: „Wir beobachten, dass immer weniger Expert:innen ausreichende Erfahrungen in der stationären und ambulanten Versorgung von HIV-Erkrankungen und AIDS haben und das nur noch in wenigen Zentren hierzu gelehrt und ausgebildet werden kann“, betont DAIG-Vorstandsmitglied Dr. Hannah Linke. 

Das Fazit: Wenn nicht zeitnah gehandelt wird, droht in absehbarer Zukunft ein struktureller Kollaps im Bereich HIV-Versorgung. Zu den zentralen Forderungen der Fachverbände gehören so eine verstärkte Nachwuchsförderung, eine erleichterte Teilnahme von Ärzten an der HIV-Schwerpunktversorgung, bereits bestehende Versorgungslücken auf dem Land zu schließen und den Zugang zur Prävention auszubauen, insbesondere bei der PrEP. Dazu sei ein besseres Angebot von psychosozialer Versorgung ebenso sehr wichtig. 

Neu-Diagnosen im Jahr 2024

Wie die Lage dabei generell aussieht, zeigen die neusten Daten des Robert Koch-Instituts auf: Im Jahr 2024 kam es zu 3.259 gesicherten HIV-Neudiagnosen in Deutschland; die Zahl inkludiert sowohl jene Menschen, die sich tatsächlich 2024 neu mit dem Virus infiziert haben wie auch jene, die bereits länger HIV-positiv sind, aber erst im vergangenen Jahr von ihrer Diagnose erfahren haben. Die meisten Neudiagnosen kamen 2024 aus Bayern gefolgt von Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Berlin und Niedersachsen. Drei Viertel der Infizierten (73%) waren Männer, insbesondere schwule und bisexuelle Männer (MSM). Bei jener Gruppe stieg die Zahl der Neu-Diagnosen um neun Prozent binnen eines Jahres an.

Von den rund 3.300 HIV-Neudiagnosen im Jahr 2024 entfielen 35 Prozent (1.134 Fälle) auf schwule und bisexuelle Männer, weitere 29 Prozent auf heterosexuelle Personen und acht Prozent auf Menschen, die sich im Rahmen von Drogenkonsum ansteckt haben. Bei den restlichen knapp 27 Prozent war der Übertragungsweg nicht ermittelbar. Aktuell leben in Deutschland schätzungsweise 96.700 Menschen mit einer HIV-Infektion. Etwa 8.200 Personen wissen nichts von ihrer Diagnose. Jährlich infizieren sich etwa 2.200 Menschen neu mit HIV.     

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