Grüne Rebellion! „Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen, die Einwände gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz vorbringen, öffentlich diffamiert, bedroht und mundtot gemacht werden.“
Es wirkt ein wenig wie eine grüne Rebellion, die sich aktuell im Vorfeld der 48. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90 / Die Grünen gerade entwickelt – bisher rund 60 Delegierte und Parteimitglieder fordern bei der Konferenz Mitte Oktober in Bonn eine breite und öffentliche Debatte zum geplanten neuen Selbstbestimmungsgesetz. Die Mindestzahl der Antragsteller ist dabei längst erreicht, sodass bei finaler Einreichung die Grünen beim Treffen der Bundesdelegierten erstmals in dieser Form öffentlich darüber diskutieren müssen. Dieser Forderung haben sich Parteimitglieder aus ganz Deutschland angeschlossen, von Tübingen bis Potsdam, von Frankfurt bis Bonn, von Nürnberg bis Berlin, München oder Stuttgart.
In der Begründung für diese Debattenforderung erklärt Antragstellerin Eva-Marie Müller aus Nordrhein-Westfalen, dass es bis heute viele offene Fragen zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz gibt, die bisher nicht “zufriedenstellend“ beantwortet worden sind. „Wir befürchten, dass die Veröffentlichung des konkreten Gesetzentwurfs erst kurz vor der Verabschiedung geplant ist, so dass es dann für eine breite Debatte zu spät ist“, so die Grünen-Politikerin weiter. Im Antrag wird auch festgehalten, dass es durchaus einen Handlungsbedarf beim bisherigen Transsexuellengesetz gibt, es entspreche nicht mehr den gesellschaftlichen Werten und bedürfe einer Anpassung. Aber: „Die geplante Veränderung, Recht auf Selbstdeklaration des Geschlechtes in der im Eckpunktepapier beschriebenen Form, ist so fundamental, dass sie Auswirkungen auf andere, nicht transsexuelle Erwachsene und insbesondere auf Kinder und Jugendliche hat, und deshalb nicht ohne eine breite gesellschaftliche Zustimmung umgesetzt werden sollte. Wir möchten daran erinnern, dass große Reformen wie zum Beispiel die Abschaffung des Verbots von Homosexualität, die 'Ehe für Alle' oder das Abtreibungsrecht in Deutschland in den meisten Fällen mit breiten überparteilichen Mehrheiten durchgesetzt worden sind. Diese Akzeptanz braucht auch das geplante Selbstbestimmungsgesetz. Weshalb wir für eine neue Regelung der Rechte von transsexuellen Menschen eine breite Mehrheit, bestenfalls unter Einbeziehung von Abgeordneten aller Parteien, anstreben“, so Müller weiter, die selbst als Erzieherin arbeitet.
So sei es laut Müller und den unterschriebenen Parteikollegen auch unabdingbar, Argumente auszutauschen und die Bedenken und Ängste aller Menschen zu respektieren und ernst zu nehmen. „Eine breite gesellschaftliche Debatte sollte deshalb zuvor ermöglicht werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen, die Einwände gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz vorbringen, öffentlich diffamiert, bedroht und mundtot gemacht werden. Weder parteiintern noch in der öffentlichen Debatte. Gute Argumente müssen gehört werden, damit für wirklich alle Seiten das Beste entstehen kann. Folgen und Spätfolgen müssen bedacht werden, damit in der breiten Bevölkerung nicht nur die Akzeptanz für transsexuelle Menschen wächst sondern bestenfalls auch die Unterstützung derer.“ So sei es ebenso wichtig, dass die parteiliche Debatte zu dem geplanten Gesetz in aller Breite und Offenheit abgehalten werde und dabei Diffamierungen zu unterlassen seien, so Müller weiter. Zudem sollte bei der Diskussion auch eine Rechtsfolgenabschätzung für die geplanten Regelungen angedacht werden, ebenso wie das Einbringen von quantitativen Studien und aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien. Abschließend hält Müller fest: „Alternativen beziehungsweise Änderungen zu dem geplanten Gesetz müssen ergebnisoffen diskutiert werden können.“
Die bisherigen Reaktionen auf die interne Debattenforderung sind beinahe durchwegs positiv, Partei-Kollegin Birgit Ebel schreibt dazu: „Volle Zustimmung! Als Lehrerin an einer Gesamtschule habe ich im letzten wie auch erneut in diesen ersten Wochen des neuen Schuljahres immer wieder festgestellt, dass 95 Prozent meines etwa 100köpfigen Kollegiums einschließlich der Sozialarbeit nichts von den neuen Inhalten wissen und höchst irritiert sind. Schüler/innen berichten davon, dass sie über soziale Netzwerke fortlaufend damit konfrontiert werden und das Gefühl haben, dass es schon zum Trend gehört, sich queer oder trans sein zu bezeichnen. Eine breite Debatte, die echte Kontroversen zulässt, ist dringend notwendig.“ Und auch die intern bereits mehrfach für ihre kritischen Äußerungen angegriffene Eva Engelken hält zudem fest: „Als ich 2020 erstmalig mit damals einem Quorum von 20 Unterstützern beantragte, das geplante Selbstbestimmungsgesetz wegen seiner problematischen Auswirkungen auf Frauenrechte, Demokratie, Gesellschaft etc. breit zu debattieren, hieß es von Queergrün, ich solle doch bitte bei der AfD eintreten, ich sei transfeindlich und rechts. Es geht bei der Debatte nicht gegen das Existenzrecht von Menschen, die sich in ihrem biologischen Körper nicht beheimatet fühlen. Es geht um klar benennbare Grenzüberschreitungen aggressiver Aktivisten und Aktivistinnen, die nicht für die gesamte Queer-Community sprechen, die Frauen, Kindern und Jugendliche schaden und auch die Grenzen von Teilen der eigenen Klientel missachten. Es freut mich, dass sich mittlerweile eine breite Gruppe von Grünen formiert hat, die explizit eine breite Debatte, eine Rechtsfolgenabschätzung und das Unterlassen von Diffamierung fordert. Ich hoffe, es gelingt, ein gesellschaftliches Bewusstsein und eine gesellschaftliche Ablehnung der geplanten Neuerungen herbeizuführen, ehe es zu spät ist.“
Einzige bisherige Kritik kommt von der 26-jährigen Grünen-Politikern Ami Lanzinger, die im ersten Satz bereits darauf hinweist, dass sie den Antrag für falsch hält und dass in dem Antrag nicht gegendert worden sei – Antrage sollten aber alle gegendert werden, so Lanzinger. Des Weiteren erklärt die junge Politikerin, dass man als Grünen-Mitglied auch intern bei den treibenden Kräften des neuen Selbstbestimmungsgesetzes, den beiden grünen trans-Frauen im Bundestag, Tessa Ganserer und Nyke Slawik, sowie beim Queer-Beauftragten Sven Lehmann hätte nachfragen sollen. Der Forderung, dass sich ein breites Bündnis der Parteien im besten Fall für das neue Gesetz aussprechen sollte, entgegnet Lanzinger: „Unter Einbeziehung von allen Parteien würde bedeuten, auch die queerfeindliche AfD überzeugen zu wollen und die konservative und ebenso queerfeindliche Union. Wenn wir nur noch Gesetze mit Beteiligung aller Parteien im Bundestag beschließen könnten, würden keine Gesetze mehr beschlossen werden.“ Ferner hält die 26-Jährige fest: „Die Diskussion ist leider durchsetzt von Queerfeindlichkeit und Formulierungen, wie man sie aus früheren Jahrzehnten auch gegen Homosexuelle kannte. Aber generell findet es statt. Warum allerdings überhaupt diskutiert werden muss von Personen, die nicht betroffen sind, sich in entsprechenden Verbänden organisieren oder Fachpersonal dazu sind, ist mir etwas schleierhaft.“ Zudem meint Lanzinger: „Kein Mensch wird mundtot gemacht, das spielt rein in Rhetoriken wie ´cancel culture´, die schlichtweg nicht existiert. Es wird lediglich aufgeklärt über verbreitete falsche Fakten, was transphob ist und wer sich transphob äußert. Zudem gibt es ein Recht auf Meinungsfreiheit, aber kein Recht auf Transphobie. Wenn solche Beiträge verhindert werden, gilt dies zum Schutz von INTA* Personen.“ Abschließend erklärt die bayerische Politikerin aus Lindau, dass das neue Selbstbestimmungsgesetz keinerlei Auswirkungen auf cis Personen habe – bisher rund 60 Parteimitglieder der Grünen sehen dies aber offensichtlich anders und haben den Antrag zur Debatte bei der Bundesdelegiertenkonferenz im Oktober mitunterschrieben.