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Cancel Culture?!
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Cancel Culture?! Kanada diskutiert über fragwürdigen Rausschmiss von sechs Forscherinnen

ms - 29.09.2023 - 13:00 Uhr

In Kanada wird in diesen Tagen heftig einmal mehr über einen besonderen Fall von Cancel Culture gestritten – im Zentrum dabei die LGBTI*-Community. Hintergrund ist eine geplante Vortragsreihe beim Jahrestreffen der American Anthropological Association (AAA) und der Canadian Anthropology Society (CASCA) – der Kongress in Toronto gilt als einer der wichtigsten Austauschmöglichkeiten von Experten weltweit im Bereich Anthropologie. Die angedachte Fachvortragsreihe der sechs Forscherinnen, darunter allein vier renommierte Professorinnen, allesamt von namhaften Universitäten aus Kanada, Amerika und Spanien, wurde jetzt vom US-Verband AAA abgesagt.

Kritik an Vortragsreihe

In der Ankündigung des Panels wurde dabei nahegelegt, dass das biologische Geschlecht eines Menschen zumindest in der Anthropologie, also der Wissenschaft vom Menschen, noch eine „relevante Kategorie“ ist, beispielsweise, wenn Skelette von Menschen untersucht werden, die vor hunderten Jahren verstorben sind. Im öffentlichen Leben sei zwar immer weniger vom biologischen Geschlecht die Rede, doch für solche anthropologischen Fragen sei dies noch immer „unersetzbar relevant“.

Nach massiver Kritik am Thema seitens diverser Mitglieder der teilnehmenden Verbände sagte die AAA die Veranstaltung nun mit der Begründung ab, damit die „Sicherheit und Würde der Mitglieder“ weiter gewährleisten zu wollen. Zudem wolle man die „wissenschaftliche Integrität“ des Programms wahren. Nach erneuter Untersuchung der Vortragsreihe ist der amerikanische Fachverband für Anthropologie dabei zur Erkenntnis gelangt, dass „die Ideen in einer Art und Weise vorgebracht wurden, die den Trans- und LGBTQI-Mitgliedern der anthropologischen Gemeinschaft wie auch der Gemeinschaft insgesamt schaden würde.“ Welcher Aspekt dabei konkret solch einen Schaden anrichten würde, wurde nicht weiter erklärt. 

Offener Streit in Kanada

Seitdem herrscht nun offener Streit, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Landesweit wird über den Fall von Cancel Culture berichtet. Besonders kritisch wird dabei die Frage aufgeworfen, warum die AAA so schnell einen Rückzieher gemacht hat. Im Vorfeld war das Panel „Let's Talk About Sex Baby: Warum biologisches Geschlecht eine notwendige analytische Kategorie in der Anthropologie bleibt“ eingehend vom Sektionsprogrammvorsitzenden der AAA und dem wissenschaftlichen Komitee von CASCA geprüft und genehmigt worden.

Die betroffenen Wissenschaftlerinnen kritisierten daraufhin die Entscheidung scharf in einem offenen Brief: „Wir sind verwundert darüber, dass die AAA/CASCA als ihren eigenen offiziellen Standpunkt vertritt, dass die Unterstützung der weiteren Verwendung biologischer Geschlechtskategorien die Sicherheit der LGBTQI-Gemeinschaft gefährdet. In der verfassten Beschreibung unseres Panels wird eingeräumt, dass nicht alle Anthropologen zwischen Sex und Gender unterscheiden müssen.“

So wird in dem angedachten Vortrag „Keine Frage: Skelette sind binär; Menschen sind es vielleicht nicht“ von Professorin Elizabeth Weiss sogar festgehalten: „In der Forensik sollten Anthropologen jedoch an Möglichkeiten arbeiten (und tun dies auch), um sicherzustellen, dass Skelettfunde sowohl nach dem biologischen Geschlecht als auch nach der Geschlechtsidentität identifiziert werden können, was angesichts der Zunahme von Personen mit Geschlechtsumwandlung besonders wichtig ist.“

Wissenschaftsfeindliche Reaktion?

Trotz all dieser Aspekte scheint sich die AAA weiter dazu verpflichtet, die gesamte Vortragsreihe nicht stattfinden zu lassen. So halten die sechs Forscherinnen abschließend fest: „Ihre Behauptung, dass unser Gremium in irgendeiner Weise ´die wissenschaftliche Integrität des Programms´ gefährden würde, erscheint uns besonders ungeheuerlich, da die Entscheidung, unser Gremium zu tadeln, sehr nach einer wissenschaftsfeindlichen Reaktion auf eine politisierte Lobbykampagne aussieht. Wäre unser Panel zugelassen worden, wir hätten uns auf eine lebhafte Auseinandersetzung gefreut - wahrscheinlich sogar untereinander, da unsere Ansichten sehr unterschiedlich sind.“

Und weiter: „Anthropologen auf der ganzen Welt werden diese Kriegserklärung an den Dissens und an die wissenschaftliche Kontroverse als abschreckend empfinden. Es ist auch ein tiefgreifender Verrat am AAA-Grundsatz, ´das menschliche Verständnis zu fördern und dieses Verständnis auf die dringendsten Probleme der Welt anzuwenden´.“

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