Droht das Ende des ESC? Wie geht der Songcontest mit Israel und künftigen Konflikten um?
Mitte Oktober haben Israel und die Terrororganisation Hamas der ersten Phase des US-Friedensplans zugestimmt, die letzten Geiseln sind heimgekehrt, nun sollen Bedingungen geschaffen werden, die einen Frieden langfristig sichern. Ob und wie das wirklich gelingt, bleibt aktuell offen und wird in diesen Tagen skeptisch beäugt. Der Gaza-Krieg spielte dabei in den letzten Wochen auch eine zentrale Rolle bei den Planungen für den Eurovision Song Contest 2026 in Wien.
Zwischen Boykott und Boyband
Bereits in den letzten zwei Jahren rumorte es beim ESC immer wieder bei der Frage um die Teilnahme von Israel, in diesem Jahr hatten mehrere Länder ihren Boykott angekündigt, wenn Israel 2026 in Wien teilnehmen darf. Andere Länder hatten indes erklärt, sie stehen hinter Israel, auch Gastgeberland Österreich. Eine Sondersitzung im November sollte Klarheit bringen, diese wurde nun auf Dezember vertagt. Bis dahin haben auch die Rundfunkanstalten der Länder noch Zeit, eine Teilnahme final zuzusagen – oder auch nicht. Werden erneut Boybands nach Wien verschickt oder doch nicht?
Befriedet ist die Lage unter den ESC-Verantwortlichen trotz der Waffenruhe in Gaza derzeit noch immer nicht, viele Rundfunkmitarbeiter blicken skeptisch auf die jüngsten Entwicklungen. Bundeskanzler Friedrich Merz hatte vorab bereits betont, dass er von einer Teilnahme Deutschlands absehen wolle, wenn Israel ausgeladen werden würde. Jenseits der aktuellen politischen Lage stellt sich dabei die wesentliche Frage, wie künftig generell mit Krieg und Frieden umzugehen ist. Kurzum: Droht der ESC langfristig zu zerreißen? SCHWULISSIMO fragte nach beim ESC-Experten Benjamin Hertlein, Gründer des größten ehrenamtlichen Newsblogs ESC Kompakt.
Wie blickst Du als ESC-Experte auf die Entwicklungen der letzten Wochen?
Der ESC hat klare Regeln, die besagen, dass jeder Mitgliedssender der European Broadcasting Union (EBU) am Wettbewerb teilnehmen kann. Der israelische Sender KAN wurde von der EBU nicht ausgeschlossen, weil er unabhängig arbeitet und auch regierungskritisch berichtet. Trotzdem hat sich schon seit Monaten angekündigt, dass sich die Frage über Israels Teilnahme stellen wird. Hier hat die bürokratische EBU aus meiner Sicht viel zu spät reagiert und auch schon bei den vergangenen beiden ESCs keine gute Figur gemacht. Auch deshalb ist die Situation jetzt so kritisch. Diese Führungsschwäche zeigt sich jetzt erneut daran, dass die EBU sich aus der Verantwortung stiehlt und die Entscheidung einfach an die Mitglieder zurückspielt.
Frieden im Gaza und alles ist wieder gut? Mitnichten. Es ist noch völlig offen, wie die Entscheidung im Dezember ausgehen wird. Wird sich nach der Abstimmung und den weiteren Entwicklungen alles in Wohlgefallen auflösen?
Es ist schwer vorauszusagen, wie es weitergeht. Zum einen gibt es noch viele Unklarheiten, etwa welches Quorum erreicht werden muss. Zum anderen spielen bei manchen Rundfunkanstalten sicherlich auch andere Überlegungen eine Rolle – etwa, ob hier ein Präzedenzfall geschaffen wird, der dann auch die Frage aufwirft, welche Sender in Zukunft aus welchen Gründen vom ESC ausgeschlossen werden dürfen sollen. Beispielsweise fordern manche auch, dass Länder, die sich im Krieg befinden, generell nicht am ESC teilnehmen sollten. Das würde dann zum Beispiel auch die Ukraine betreffen. Die Frage ist also: Wo fängt man an, wo hört man auf? Diese Frage könnte das Abstimmungsverhalten einiger Länder beeinflussen, ganz unabhängig von ihrer Position zur Teilnahme Israels.
Der in Deutschland in diesem Jahr erstmals verantwortliche SWR hatte zur Debatte erklärt, dass nicht Regierungen beim Musikwettbewerb antreten, sondern Rundfunkanstalten. Einerseits ein verständliches Argument, es geht um die Musik, nicht um die Politik. Andererseits könnte man dann ebenso keck fragen, warum Russland und Belarus seit einigen Jahren ausgeschlossen werden.
Das ist nicht nur ein verständliches Argument, sondern die offizielle Regel. Und da gibt es faktisch einen Unterschied zwischen dem unabhängigen Sender KAN in Israel und den staatlich gesteuerten Rundfunkanstalten in Russland und Belarus. Diese wurden ausgeschlossen, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat. Ein zweiter deutlicher Unterschied zum Gaza-Krieg, denn hier wurde Israel zunächst von der Hamas angegriffen. Auch deshalb geht es gerade um mehr als die Frage, ob Israel ausgeschlossen werden sollte. Es geht auch darum, wie zukünftig in ähnlichen Fällen gehandelt werden sollte. Und da macht sich die EBU mit einer einfachen Ja-Nein-Frage und der Mitgliederabstimmung einen schlanken Fuß.
Beim Finale im Mai dieses Jahres gewann JJ beim ESC, allerdings nur dank des Jury-Votings. Wäre es nach dem Publikum gegangen, hätte die israelische Sängerin Yuval Raphael gewonnen. Angesichts dessen, ist dieser Streit eine Debatte, die am Publikum vorbei geführt wird?
Nein. Beim ESC kann man nur für Beiträge abstimmen, aber nicht dagegen. Yuval hat viele Punkte bekommen, weil sie ihren emotionalen Song sehr gut gesungen und glaubwürdig auf die Bühne gebracht hat. Und sicherlich auch deshalb, weil einige Leute ihre Unterstützung für Israel zum Ausdruck bringen wollten, aber auch, weil in diesem Jahr ein klarer Publikumsfavorit gefehlt hat. Wer sich gegen Israels Teilnahme positionieren wollte, hatte bei der Abstimmung keine Möglichkeit, das zum Ausdruck zu bringen, aber das ist ja auch nicht Sinn und Zweck des Votings.
Blicken wir aufs kommende Jahr: Der ESC in Wien dürfte für die Polizei eine Herausforderung darstellen, um den internationalen Musikcontest für alle Beteiligten und alle Gäste sicher zu machen. Kannst Du nachvollziehen, dass manche Fans bei all den Konflikten inzwischen mit einem mulmigen Gefühl auf das Event blicken? Was würdest Du hier erwidern?
Erstmal hoffe ich, dass die Situation bis zum kommenden Mai schon wieder entspannter ist. Sonst sehe ich aber auch keinen Grund, warum die Lage beim ESC in Wien unsicherer sein sollte als in den letzten beiden Jahren oder bei jeder anderen Großveranstaltung. Ich fühle mich beim ESC jedes Jahr sicher und Österreich trifft sicherlich alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen.
In Deutschland liegt die Verantwortung für den ESC 2026 nach Jahrzehnten erstmals beim SWR, nicht mehr beim NDR. Eine Castingshow mit Stefan Raab wird es nicht mehr geben, auch nicht mehrere Vorentscheidungsshows. Ist das aus deiner Sicht eine gute Herangehensweise?
Stefan Raab halte ich auf jeden Fall für verzichtbar. Mit Abor & Tynna hat er in diesem Jahr zwar einen vielversprechenden Newcomer-Act gefunden, aber sein Gespür für ESC-taugliche Hits und auch zielführende Showkonzepte hat doch deutlich nachgelassen. Schade ist aber, dass es im kommenden Jahr nur noch eine Vorentscheidungsshow geben wird. Damit bleibt die ARD hinter dem Potenzial zurück, dass der ESC hat, wie die Einschaltquoten für das Finale jedes Jahr deutlich zeigen.
Beim ESC ist es ein wenig wie beim Spitzenfußball, jeder Zuschauer scheint hinterher genau zu wissen, was das Beste gewesen wäre. Am Ende reicht es für Deutschland dann zumeist nur fürs Mittelmaß oder gar für die letzten Plätze. Was müsste aus deiner Sicht passieren, damit der neue Interpret aus Deutschland eine echte Chance hat, 2026 unter die Top-5 zu kommen?
Die eine Erfolgsformel gibt es nicht. Einen charismatischen Act oder einen internationalen Hit kann man über verschiedene Auswahlverfahren finden. Das Wichtigste für Deutschland wäre aber, endlich zu mehr Kontinuität zu kommen. Das heißt: Nicht jedes Jahr ein neues Auswahlverfahren mit neuem Namen etablieren, sondern bei einem Auswahlverfahren zu bleiben, das kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert wird und sich bei Künstler*innen und dem Publikum etablieren kann. Und es braucht Personen mit Musik- und ESC-Expertise, die den Auswahlprozess federführend verantworten. Ein großes Problem sind aber auch die bürokratischen Strukturen im ARD-System. Zu viele Alphamänner und -frauen wollen mitreden, sodass selbst jetzt im Herbst viele Fragen zum Vorentscheid im Februar noch ungeklärt sind. Das wird der Bedeutung des ESC, schon allein gemessen an Einschaltquoten, nicht gerecht.
Der SWR hat festgelegt, dass ein Bewerbersong für den deutschen Beitrag zum ESC 2026 nicht mit Künstlicher Intelligenz entstanden sein darf. Wie schätzt Du das als Problem für die Zukunft ein? Und werden sich andere Länder an ein solches Verbot deiner Meinung nach richten?
Ich halte Verbote für schwierig, die man nicht durchsetzen kann. Wie soll denn überprüft werden, ob und in welchem Maß ein Lied von KI erschaffen wurde? Solche Regeln sind für mich dann eher der Ausdruck von Hilflosigkeit. Und zeigt auch die falsche Vorstellung von der Arbeit mit KI: Als würde man einfach einen Prompt eingeben und hätte plötzlich einen ESC-Siegersong. Dabei ist es doch auch ein kreativer Prozess, wenn bei einzelnen Schritten KI eingesetzt wird. Man kann es auch so sehen: KI ist ein technisches Hilfsmittel wie viele andere auch und wird sich irgendwann etabliert haben. Beim ESC gibt es kein Orchester mehr, nur noch der Gesang ist live. Mittlerweile sind aber auch Backgroundstimmen vom Band sowie bestimmte Voice-Effekte erlaubt. Musik verändert sich und das muss auch der ESC widerspiegeln, wenn er weiter relevant sein will.
Benny, du bist seit 1998 Fan des ESC und hast 2019 den inzwischen reichweitenstärksten unabhängigen ESC-News-Blog ins Leben gerufen. Was fasziniert dich bis heute so sehr am ESC? Und hast du als Fachmann eine Erklärung dafür, warum der ESC gerade auch in der LGBTIQ+-Community für viele so wichtig ist?
Der ESC ist für mich viel mehr als nur ein Musikwettbewerb oder eine Unterhaltungsshow. Beim ESC kann jede*r sein, wie er*sie ist. Das zeigt sich auf und vor der Bühne. Nicht ohne Grund haben sich Länder wie die Türkei oder Ungarn zurückgezogen, deren Regierungen genau diese individuelle Freiheit einschränken wollen. Ich mag aber auch den ursprünglichen Grundgedanken: Länder kommen zu einem friedlichen Wettbewerb zusammen. Der ESC kommt ja aus einer Zeit, in der das friedliche Miteinander – auch in Europa – noch nicht selbstverständlich war. Umso mehr hoffe ich, dass der ESC sich das auch in der aktuell schwierigen Phase bewahren kann. Leider sind die Zeiten ja so, dass wir solche Orte der Verständigung und der Offenheit dringend brauchen.
Benny, vielen Dank fürs Gespräch und hoffen wir auf 12 Points for Germany.
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