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STIGMA!
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Stigma! Alles im Lack unter der Nachweisgrenze?

ms - 01.11.2022 - 17:00 Uhr

Kaum ist die Viruslast unter der Nachweisgrenze, ist alles im Lack – oder doch nicht? Seitdem HIV zu einer chronischen Erkrankung geworden ist, hat das Virus nicht nur seinen Schrecken verloren, sondern wird auch gerne immer mehr verharmlost. Das wird dem Virus, das nachweislich andere Krankheiten wie Krebs oder Herzprobleme massiv befeuern kann, nicht nur nicht gerecht, der leichtfertige Umgang verschließt auch die Augen vor der Problematik rund um das Stigma HIV. Diese Diskriminierung und Stigmatisierung erleben viele Menschen mit HIV bis heute und das sowohl außerhalb wie aber auch innerhalb unserer Community.

Genau jene Stigmatisierung steht auch der von UNAIDS definierten Fast-Track-Initiative maßgeblich im Weg: Ab 2030 sollen 95 Prozent aller Menschen mit HIV wissen, dass sie das HI-Virus in sich tragen. 95 Prozent  von ihnen sollen eine antiretrovirale Therapie einnehmen und 95 Prozent dieser Menschen dabei eine Viruslast unter der Nachweisgrenze erreichen. In den Fokus gerät dank innovativer Therapien der letzten Jahre auch eine vierte 95: Es sollen 95 Prozent der erfolgreich Therapierten eine zufriedenstellende gesundheitsbezogene Lebensqualität erreichen. Um das zu erreichen, sollte und muss die Stigmatisierung von Menschen mit HIV endlich aktiver angegangen werden und zwar sowohl im Privaten wie auch im Beruf. Wie das gelingen kann, wollten wir von Sexualwissenschaftlerin und HIV-Expertin Harriet Langanke wissen.

 

Frau Langanke, wie würden Sie den Grad und das Ausmaß der Stigmatisierung von Menschen mit HIV heute beschreiben? Wie groß ist das Problem auch heute noch?

Zu allererst muss gesagt werden, dass die Stigmatisierung noch vorhanden ist. Das kann ja im Jahr 2022 durchaus noch überraschen, da man doch eigentlich davon ausgehen könnte, dass alle Menschen so gut aufgeklärt sind, dass es überhaupt keinen Grund mehr für Stigmatisierung geben müsste. Tatsächlich erleben wir eine Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Phänomenen: Es gibt Menschen, die können sehr offen mit ihrer HIV-Infektion umgehen und diese erleben auch keine Stigmatisierung. Und es gibt Menschen, die sehr häufig Stigmatisierung erleben, zum Beispiel im medizinischen Betrieb aber auch im Umgang mit Behörden oder im Privaten, zum Beispiel bei der Suche nach Partnerschaften oder sexuellen Begegnungen. Aus unserer Sicht ist das ein sehr großes Problem, weil die Menschen, die stigmatisiert werden, oftmals auch eine schlechtere Versorgung erleben. Wichtig dabei ist auch, dass es nicht nur um Stigmatisierung von außen geht, es gibt auch nach wie vor die Selbst-Stigmatisierung, also Menschen, die diese bei sich oder bei anderen erlebt haben und jetzt dazu neigen, sich selbst zu stigmatisieren.  

 

Wie kann man solchen Menschen helfen, damit sie einen Weg aus dieser Selbst-Stigmatisierung finden?

Die beste Therapie sind tatsächlich selbstgemachte, positive Erfahrungen. Wenn man sich überwindet und über seine HIV-Infektion spricht und dann gute Erfahrungen erlebt und Menschen einem interessiert und offen begegnen, ist das ein wesentlicher Schritt gegen eine Selbst-Stigmatisierung. Und sich dazu immer wieder auch bewusst machen und hinterfragen, warum man selbst so eine Ablehnung gegenüber der Thematik hat, sodass man dies auch anderen Menschen unterstellt.  

 

Wir erleben immer wieder, dass auch innerhalb der Community oftmals noch Menschen mit HIV stigmatisiert werden, beispielsweise wenn es um ein Date geht. Ist das eine Art von verständlicher “Ur-Angst“, geprägt durch die Erlebnisse der vergangenen Jahrzehnte?

Also zum einen muss gesagt werden, dass natürlich jeder Mensch erst einmal das Recht hat, sich frei zu entscheiden, mit wem er oder sie gerne Kontakt haben will oder nicht. Es liegt auch in dieser Entscheidungsfreiheit, sich nicht mit jemandem treffen zu wollen, der eine chronische Infektion hat, auch wenn das im Einzelfall vielleicht verletzen oder kränken kann. Zum anderen ist natürlich eine generelle Diskriminierung von Menschen mit HIV niemals akzeptabel, unabhängig davon, ob ich im Kopf noch die Gedanken an die alten Erfahrungen mit HIV habe. Die alten Bilder, die wir alle noch in den Köpfen haben, legitimieren aus meiner Sicht überhaupt keine Diskriminierung.

 

Wenn wir mit Ärzten von HIV-Schwerpunktpraxen reden, erleben wir immer wieder, dass diese uns von Scham und Schuldgefühlen erzählen, unter denen sowohl neu infizierte Menschen mit HIV leiden aber oftmals auch Menschen, die seit Jahrzehnten HIV-positiv sind. Oftmals scheint der Einsatz dagegen inzwischen schwerer zu sein als die Bekämpfung der Krankheit selbst. Wie sehen Sie das?
 
Ich möchte das gar nicht gegenüberstellen, ich denke mit Blick auf meine Erfahrungen aus Konferenzen und vielen Gesprächen lässt sich sagen, dass das Hand in Hand geht, die Krankheit selbst und die Stigmatisierung. Wenn man nicht stigmatisiert wird und sich auch nicht diskriminiert fühlt, hat man auch einen besseren Zugang zu ärztlicher Versorgung – das ist ganz eindeutig. Die meisten HIV-Schwerpunktpraxen arbeiten aktiv daran, dass das Stigma bei HIV verschwindet. Wenn man als Patient mit HIV aber zum Beispiel in eine orthopädische Praxis geht, weil man Rückenschmerzen hat, und dort dann Diskriminierung erlebt, dann nützt es einem gar nichts, dass die eigene Schwerpunktpraxis aufgeklärt ist. Es wäre daher viel wichtiger, dass auch Ärzte untereinander mehr Aufklärung leisten und man als Patient nicht zumeist erst einmal in die Situation kommt, den Arzt oder das medizinische Personal über HIV und die jeweilige Therapie und Versorgung aufklären zu müssen.

 

Das entspricht sehr genau auch dem Appell der Bundesärztekammer, die im August erklärt hat, dass es in vielen Arztpraxen und Kliniken noch an speziell geschultem Personal fehlt und hier deutlich mehr gegen Vorurteile, Unsicherheiten und Diskriminierung getan werden müsste.

Definitiv! Wir erleben das nach wie vor sehr oft, dass Ärzte und auch medizinisches Personal Einzelheiten zu Ansteckung mit HIV nicht genau wissen. Es gibt hier Fachpersonal, das wirklich gar nicht informiert oder aufgeklärt ist und dann oftmals in ganze alte Verhaltensmechanismen zurückfällt. Da gibt es noch einen ganz großen Aufklärungsbedarf. Es gibt auch unter der jungen Generation viele, die diese Aufklärung noch brauchen.   

 

Gerade diese ersten medizinischen Gespräche sind dabei in puncto Stigmatisierung ganz wesentlich – wieso?

In der Regel erfahre ich von einer HIV-Diagnose ja irgendwo im medizinischen Betrieb, sei es nun beim Gesundheitsamt, der Aidshilfe oder bei einem Checkpoint. Je nachdem, wie ich dort empowert werde, so kann ich auch dann meiner Familie, meinen Freunden oder auch meinem Arbeitgeber gegenübertreten. Und je kompetenter ich selbst meine Infektion weiter kommunizieren kann, umso mehr ist auch mein Umfeld bereit, mir zu vertrauen. Damit können auch andere Menschen mit der Diagnose besser umgehen und aus einer verständlichen, anfänglichen Besorgnis wird so zumeist keine Diskriminierung oder Stigmatisierung. Ich würde daher immer sagen, dass die ersten Erfahrungen, die man selbst als Mensch mit HIV bei der Diagnose macht, sehr ausschlaggebend sind.  

 

Was würden Sie Menschen mit HIV raten, wenn Sie die Diagnose bekommen haben: Sag ich’s jedem? Verschweige ich’s allen?

Das ist eine sehr persönliche Entscheidung und da gibt es keine allgemeingültige Antwort, denn es hängt auch viel davon ab, in welchen Verhältnissen ich lebe und wie ich selbst unterwegs bin, denn wenn ich es einmal offen gemacht habe, hole ich das ja nie mehr zurück. Ich denke, es ist wichtig, dass man sich selbst da sehr genau prüft, wann sage ich es wem und wie will ich damit umgehen. Aus meinen vielen Jahren Erfahrung mit Menschen mit HIV weiß ich allerdings, dass es grundsätzlich besser ist, offen damit umzugehen. Geheimnisse nagen ansonsten an vielen Menschen und das ist eine Belastung, die man nicht unterschätzen sollte. Wenn man einmal den Punkt verpasst hat, sich mit HIV zu outen, ist es danach oftmals noch viel schwerer. Es gibt viele Beispiele von Menschen, die mit ihrem offenen Umgang mit ihrer HIV-Infektion sehr gute Erfahrungen gemacht haben und das auch als stärkend erlebt haben.

 

Wie sollten bestenfalls Ärzte und Behandelnde mit Menschen mit HIV umgehen, um Stigmatisierung zu vermeiden?

Ich würde mir wünschen, dass eine Lehre aus den letzten Jahren mit Covid ein bewusster und wissender Umgang mit Infektionen generell ist und wir mehr wissen, wo und wie man sich anstecken und wie man Infektionen vermeiden kann.  Die zweite Lektion wäre für mich, dass wir künftig Infektionen nicht mit Schuld, Scham oder Vorwürfen verknüpfen, sondern dass wir immer hinter der Diagnose auch den Menschen sehen. Sich daran zu erinnern, ist beim Umgang mit Menschen mit HIV ein ganz wichtiger Aspekt. Menschen mit HIV sollten als ganz normale Patienten behandelt werden.

 

Welchen Einsatz erwarten Sie sich hier von der Politik?
 
Das ist natürlich ein sehr breites Feld, über das wir sehr lange diskutieren könnten, das würde hier aber den Rahmen sprengen. Mit Blick auf die Bundespolitik lässt sich aber sagen, wir hatten in der Vergangenheit ganz hervorragende Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zusammen mit der Deutschen Aidshilfe, die für einen hohen Wissenstand in der Bevölkerung gesorgt haben. Dieser Wissensstand ist in dieser Form so heute nicht mehr gegeben, was maßgeblich auch daran liegt, dass diese Kampagnen nicht in einem ausreichenden Maß weitergeführt wurden. Meine klare Botschaft an die Politik wäre hier, solche Kampagnen wieder massiv zu stärken.

 

Während die einen HIV als einfache chronische Krankheit bagatellisieren, warnen andere vor Krankheiten wie Krebs, die durch HIV weiter negativ begünstigt werden könnten. Wie sollten wir uns diesen beiden unterschiedlichen Positionen nähern, ohne abermals auf die eine oder andere Weise der Stigmatisierung Vorschob zu leisten?  

Ich denke, wir müssen aus diesem starren Denken heraustreten und aufhören, das eine gegen das andere auszuspielen. Wir sind mit diesen doppelten Botschaften konfrontiert, HIV ist gar nicht schlimm oder doch ein großes Drama, beide Ansagen existieren derzeit parallel. Beides kann aber auch für die jeweils betreffende Person stimmen, daher würde ich versuchen, beiden Argumenten den Raum zu geben, den sie auch verdienen. Wichtig ist für mich dabei aber, wie man damit politisch und im öffentlichen Raum umgeht und da würde ich gerne wegkommen von der Dramatisierung. Ich denke, es ist kein gutes Signal, mit HIV diskriminierend und mit erhobenem Zeigefinger samt Drohszenarien umzugehen.

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