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HIV - der zahnlose Tiger?
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HIV - der zahnlose Tiger? Das ist der aktuelle Stand

ms - 24.11.2023 - 17:00 Uhr

Zum 35sten mal gedenken wir beim Weltaidstag am ersten Dezember den Opfern der bis heute tödlichen Pandemie – mindestens 41 Millionen Menschen weltweit sind bis heute an den Folgen von AIDS gestorben, rund 39 Millionen Personen leben aktuell schätzungsweise mit dem Virus, in Deutschland allein rund 91.000 Männer und Frauen. Trotzdem scheint AIDS und HIV schrittweise in den letzten Jahren aus dem Gedächtnis vieler vor allem junger schwuler Männer verschwunden zu sein, spätestens seit den Therapieerfolgen rund um eine einmal täglich einzunehmende Pille sowie der Möglichkeit der PrEP ist aus dem einst gefürchteten Todesurteil eine chronische Krankheit geworden. Der Tiger ist sozusagen zahnlos.

Unkenntnis und Leichtfertigkeit im Umgang mit HIV

Vielleicht nehmen einige von uns das Virus dabei aus Unkenntnis auch zu unbedacht auf die leichte Schulter, denn entgegen der allgemeinen Meinung wissen wir bis heute sehr viel über das Virus noch immer nicht. Und nach wie vor erleben wir, welche fatalen Folgen HIV gerade auch in Kombination mit anderen Erregern wie beispielsweise den Affenpocken haben kann. Und während einige Länder und Städte mit Nachdruck bemüht sind, HIV bis 2030 endgültig „besiegt“ zu haben, zeigen die jüngsten Entwicklungen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO, dass in einigen anderen Ländern sogar wieder ein Anstieg von Neu-Infektionen zu verzeichnen ist. Hinzu kommt, dass im Rahmen von Homophobie und einer Verweigerung von gezielter Aufklärung die Krankheit noch immer wie derzeit verstärkt in Russland beispielsweise als „Schwulenseuche“ diffamiert wird, sodass sich das Virus ungehindert verbreiten kann. Noch immer sterben im Jahresdurschnitt zwischen 600.000 und 800.000 Menschen jedes Jahr an HIV-bedingten Ursachen, rund 1,3 Millionen infizieren sich jedes Jahr weltweit neu damit.

Die diesjährige internationale Weltaidskonferenz IAS hat dabei eindrucksvoll klargestellt, dass ein Sieg gegen HIV überhaupt erst dann gelingen kann, wenn das Virus weltweit unter Kontrolle gebracht wird – das scheint in vielen Ländern in Afrika aber eben auch in Russland oder der Ukraine nach wie vor besonders schwierig. Und selbst in einigen westlichen Ländern wie den USA sorgte zuletzt die Corona-Pandemie dafür, dass halbwegs stabile Präventions- und Testangebote zusammenbrachen und die Vereinigten Staaten von Amerika seitdem Rekordzahlen bei Neu-Infektionen diverser Geschlechtskrankheiten zu verzeichnen haben. Die Entwicklungen betrüben dabei auch deswegen besonders, weil eines laut WHO immer noch Gültigkeit hat: „Es gibt keine Heilung für eine HIV-Infektion. Mit dem Zugang zu wirksamer HIV-Prävention, -Diagnose, -Behandlung und -Pflege, auch bei opportunistischen Infektionen, ist die HIV-Infektion jedoch zu einem kontrollierbaren chronischen Gesundheitszustand geworden, der es Menschen mit HIV ermöglicht, ein langes und gesundes Leben zu führen.“ Damit das funktioniert, darf HIV allerdings kein Tabu-Thema sein. Nach wie vor arbeiten die WHO sowie der Global Fond und UNAIDS auch deswegen an weltweiten HIV-Strategien, die immer noch eine Beendigung der HIV-Epidemie bis spätestens 2030 anstreben. Doch selbst hier verhindert die Politik immer wieder Fortschritte oder bombardiert mit Finanzkürzungen weltweite Erfolge. Derzeit arbeiten so beispielsweise die US-Republikaner daran, eines der weltweit erfolgreichsten HIV-Präventionsprojekte namens  PEPFAR (US President‘s Emergency Plan for AIDS Relief) gegen die Wand fahren zu lassen, einzig aus politischem  Kalkül heraus. Ins Leben gerufen war das Programm vor über 20 Jahren vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der heute vehement dafür eintritt, dass seine Parteikollegen nicht weiter den gefährlichen Irrweg beschreiten – ein Ausgang ist angesichts der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr noch gänzlich offen, obwohl seriöse Schätzungen aufzeigen, dass das PEPFAR-Programm bisher über 25 Millionen Menschenleben gerettet hat.

Spielball der Politik

Den politischen Agitatoren, die HIV als Spielball für einen möglichen Stimmengewinn missbrauchen, ist dabei in vielen Ländern zu eigen, dass sie immer wieder versuchen, HIV in Verbindung mit Homosexualität zu setzen und den Einsatz gegen das Virus mit einer Form von „Werbung für das schwule Leben“ vergleichen. Das ist inhaltlich zwar gleich in mehrfacher Hinsicht schlicht Blödsinn, verfehlt aber in gewissen Kreisen seine Wirkung bis heute nicht. Die „Schwulenseuche“ und die Bilder von sterbenden jungen schwulen Männern in den 1980er und 1990er Jahren sind noch immer in den Köpfen vieler präsent – diese grauenhaften Tage für politische Machtspiele zu benutzen, ist dabei an Schändlichkeit kaum zu überbieten und spielt ganz offen mit dem Leben vieler Menschen in der Gegenwart. Viele HIV-Organisationen weltweit sehen sich dabei der steigenden Problematik gegenübergestellt, dass sie sich nicht nur verstärkt darum bemühen müssen, Bildungs- und Präventions- sowie Testkampagnen bestmöglich anzubieten, sondern sich auch immer mehr hasserfüllten Klischees und Fake News erwehren zu müssen – oder sie werden inzwischen direkt verboten, wie das in diesem Jahr beispielsweise in Uganda der Fall war. Seit dem Inkrafttreten des Anti-Homosexuellen-Gesetzes, das Homosexualität mit hohen Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe ahndet, sind auch sämtliche HIV-Kampagnen zum Erliegen gekommen, die Versorgung mit einfachsten Präventionsmitteln wie Kondomen zusammengebrochen und die AIDS-Beratungszentren mussten allesamt schließen, denn HIV ist auch hier noch immer in erster Linie irgendwie schwul. Auch die tatsächliche Faktenlage, die belegt, dass sich gerade auch in Afrika viele heterosexuelle Frauen mit dem Virus infizieren, ändert daran wenig – im Gegenteil sogar. Die ersten anderen Länder, allen voran Kenia, arbeiten schon an deckungsgleichen Strafgesetzen. Ein „Sieg“ über HIV scheint so in immer weitere Ferne zu rücken, wenn inzwischen bereits simple Realitäten nicht mehr angesprochen werden dürfen.

Das Ziel ist bleibt klar, wie es unlängst auch die WHO erneut bekräftigte: Bis 2025 sollen 95 Prozent aller Menschen, die mit HIV leben, eine Diagnose haben, 95 Prozent von ihnen sollen eine lebensrettende antiretrovirale Behandlung (ART) erhalten, und 95 Prozent der behandelten Menschen sollen eine unterdrückte Viruslast erreichen, um ihre Gesundheit zu schützen und die Weitergabe von HIV zu verringern. Betrachtet man alle Menschen, die aktuell mit HIV leben, so wissen 86 Prozent über ihren Status Bescheid, 76 Prozent erhalten eine antiretrovirale Therapie und 71 Prozent haben eine unterdrückte Viruslast.

HIV-Heilung? Ein langer Weg

Das eine sind so die alltäglichen Kämpfe im Einsatz gegen HIV, das andere sind die vielen offenen Fragen, die sich die Wissenschaft bis heute mit Blick auf das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) stellen, dessen am weitesten fortgeschrittenes Stadium der Krankheit AIDS (erworbenes Immunschwächesyndrom) genannt wird. Es war ein langer Weg von der erstmaligen offiziellen Benennung der tödlichen Krankheit am 01. Dezember 1981 über das Verständnis, wie das Virus die weißen Blutkörperchen im Körper eines Menschen angreift und so das Immunsystem lebensgefährlich untergräbt bis hin zur sicheren Erkenntnis, wie HIV überhaupt übertragen werden kann. Die heute junge Generation der Schwulen konnte sich bis vor kurzem kaum vorstellen, wie für viele gerade damals junge Homosexuelle die Pandemie zur allumfassenden Existenzkrise wurde. Kann ich mit einem Kuss meinen Partner bereits infizieren? Darf ich ihn überhaupt noch berühren? Können wir dasselbe Handtuch benutzen oder besser nicht? Darf ich überhaupt noch intim mit einem anderen Mann werden? Erst durch die Corona-Pandemie und die immer noch aktuelle Affenpocken-Ausbreitung (Mpox) haben viele eine erste kleine Ahnung davon bekommen, wie schlimm es in den 1980er Jahren weltweit in der Gay-Community tatsächlich gewesen sein mag.

Dank der antiretroviralen Therapie (ART) hat das Monster seinen Schrecken weitestgehend verloren, doch trotzdem Es gibt noch kein Heilmittel. Zwar gibt es inzwischen mehrere Einzelfälle, in denen Menschen tatsächlich von HIV geheilt werden konnten, doch handelt es sich dabei stets um schwerkranke Krebspatienten, die im Rahmen einer Stammzellentransplantation sozusagen als „Nebeneffekt“ von HIV geheilt worden sind – zwar erhoffen sich Forscher weltweit, durch die Erkenntnisse hier möglicherweise auch Wege finden zu können, das Virus im Körper eines Menschen bekämpfen zu können, doch eine tatsächlich Heilung für Millionen von Betroffenen ist wohl noch in weiter Ferne. Wissenschaftler gehen im Allgemeinen davon aus, dass es noch Jahrzehnte dauern könnte, bis die Entwicklung einer breit einsetzbaren HIV-Heilung erfolgreich sein kann, denn HIV ist äußerst schwer zu heilen. Das liegt zum großen Teil daran, dass sich das Virus, selbst wenn es durch antiretrovirale Medikamente unterdrückt wird, in nicht-replizierenden Immunzellen versteckt, die als „Virusreservoir“ bezeichnet werden. Eine klassische Standard-HIV-Behandlung wirkt dabei nur bei Zellen, die aktiv neue Viruskopien produzieren. Das Virus bleibt also unter dem Radar der antiretroviralen Mittels.

Schmetterlinge im Bauch. Wer denkt da noch gerne an HIV? © iStock / Goodboy Picture Company

Neue Erkenntnisse und offene Fragen

Im letzten Jahr dann verschlimmerte sich die Situation durch die weltweite Mpox-Pandemie, von denen in den allermeisten Fällen schwule und bisexuelle Männer betroffen waren. Anfang dieses Jahres zeigte dabei eine Studie im Fachblatt The Lancet auf, dass Menschen mit HIV ein sehr hohes Risiko haben, an den Affenpocken zu sterben, wenn ihr Immunsystem unterdrückt ist. In weiteren Studien wurden inzwischen rund 40 Prozent der weltweiten Affenpockenfälle aus dem Jahr 2022 untersucht, knapp über die Hälfte (52%) dieser betroffenen Personen waren HIV-positiv. Achtundfünfzig der Menschen mit HIV starben, ebenso wie vier Menschen ohne HIV. Noch immer wissen wir noch viel zu wenig, noch immer gibt es bei HIV beinahe monatlich neue Erkenntnisse – seit Jahren gehen Forscher auch bis heute der Frage nach, wie Menschen mit HIV altern. Wichtige Aspekte angesichts der Tatsache, dass in den meisten Ländern wie auch in Deutschland in den nächsten Jahren mehr als die Hälfe der HIV-positiven Menschen älter als 50 Jahre sein werden. In Deutschland forscht seit 2004 Dr. Stefan Esser vom Universitätsklinikum Essen als Leiter der HIV HEART Aging Studie zu diesem Thema und stellte bereits klar, dass Menschen mit HIV anders altern, sie haben im Durchschnitt auch ein erhöhtes Risiko für Krebs– und Herzerkrankungen. Derweil untersucht an anderer Stelle die Forschung den Graubereich bei der Viruslast und geht der Frage nach, wie ansteckend ein Mensch wirklich ist, wenn seine Viruslast zwischen 200 Viruskopien pro Milliliter Bluter (nicht mehr ansteckend) und mehr als 1.000 Kopien liegt – eine wichtige und wahrscheinlich lebensrettende Frage, die möglicherweise schnellere und vereinfachte Testverfahren gerade in Ländern wie Afrika ermöglicht, wo aufwendige Laboruntersuchungen oftmals nur schwer möglich sind.

Und selbst bei sicher geglaubten Tatsachen kommt es in der Forschung immer wieder zu überraschenden neuen Erkenntnissen: Eine neue US-Studie warf nun vor kurzem erst die fundierte These in den Raum, dass eine erfolgreiche HIV-Therapie indirekt auch dazu beitragen kann, dass es zu chronischen Entzündungen im Körper von Menschen mit HIV kommt. Die Grundannahme geht dabei auf die HIV-Erbsubstanz zurück, die in den menschlichen Zellen weiterhin vorhanden ist, aber „ruht“. Diese Zellen produzieren dabei aber trotzdem durch sogenannte klonale Expansion defekte Proteine mit defekten HIV-Sequenzen und diese wiederum können das Immunsystem eines Menschen dauerhaft so angreifen, dass es so chronischen Erkrankungen kommen kann – diese Entzündungen attackieren dabei verstärkt Herz und Kreislauf.
Bisher war HIV-Forschern nicht konkret klar, warum es immer wieder auf niedrigem Niveau zu Entzündungen bei Menschen mit HIV kommt, wobei diese Entzündungen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes beitragen – anders als in der allgemeinen Bevölkerung. Die Ergebnisse einer Zusammenarbeit von Wissenschaftlern der US National Institutes of Health bringen diese anhaltenden Entzündungen nun erstmals konkret mit defekten HIV-Partikeln in Verbindung. Ihre Arbeit bestätigt auch das Vorhandensein von Virusbestandteilen trotz eines nicht nachweisbaren Status, wie in der Zeitschrift AIDS detailliert beschrieben wird. Die Studie legt dabei erstmals wieder den Schwerpunkt auf das Virus selbst als Hauptverdächtigen, wenn es um chronische Immunsystem-Erkrankungen geht. Bisher war man im medizinischen Bereich vor allem auf andere Faktoren eingegangen, beispielsweise Koinfektionen oder einem ungesunden Lebenswandel durch Rauchen oder Übergewicht. Die vorliegende Studie bestätigt indes, dass das Vorhandensein defekter HIV-Sequenzen und -Proteine auch nach vielen Jahren der Virusunterdrückung mit einigen Entzündungsmarkern korreliert. Und mehr: „Allein die Tatsache, dass defekte Viren immer wieder fremde Proteine in unserem Körper produzieren können, würde ausreichen, um das Immunsystem in Alarmbereitschaft und damit in einen ständigen Entzündungszustand zu versetzen.“ Die gute Nachricht: Diese defekten Viren können sich nicht erfolgreich vermehren und auch keine neuen Zellen infizieren, aber sie scheinen in einigen infizierten „Reservoir“-Zellen aktiv produziert zu werden. Dabei handelt es sich bei praktisch allen sequenzierten Proben (99,8 %) in der Studie um defekte Viren. Die einzige Erklärung dafür ist damit die Vermehrung des Virus durch klonale Expansion der infizierten Immunzellen und die Produktion defekter Virusbestandteile in diesen Zellen. Klonale Expansion ist die Fähigkeit einiger Immunzellen, schnell viele Kopien von sich selbst herzustellen, wenn sie durch einen bestimmten Wirkstoff ausgelöst werden. Auf diese Weise kann eine kleine Anzahl von Zellen zu Millionen von identischen Zellen heranwachsen. Wenn sie ein HIV-Virus in sich tragen, vervielfachen sie gleichzeitig die Anzahl der integrierten Viren, während sie klonen. Das Problem aus medizinischer Sicht ist zudem, dass sich diese defekten Viren mit Medikamenten bisher nicht bekämpfen lassen, da sie nicht in der Lage sind, sich zu vermehren und neue Viren zu produzieren. In gewissem Sinne sind sie bereits „tot“, so die HIV-Experten. Das Forscherteam hofft nun, dass im Zuge der neuen Ergebnisse zur Erforschung und Verbesserung der HIV-Behandlung auch neue Wege aufgezeigt werden können, die eher auf die Stärkung des Immunsystems als auf das Virus selbst ausgerichtet sind.

Eines ist dabei am Ende auch 2023 klar: Wir wissen inzwischen viel über HIV und haben profunde Mittel an der Hand, Menschen mit HIV ein langes Leben zu ermöglichen, doch gibt uns das Virus noch immer viele Fragen auf, deren Beantwortung noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern können. Auch deswegen sollten wir in unserem Sexualleben trotz PrEP und guten Behandlungsmöglichkeiten nicht zu leichtfertig damit umgehen – der Tiger hat noch immer Krallen, er versteckt sie nur besser.

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