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Der starke Zusammenhalt der Community // © IMAGO IPON
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Queere Flüchtlinge aus Ukraine Es mangelt noch immer an adäquaten Unterbringungen

ms - 26.05.2022 - 14:00 Uhr

Berlin ist bis heute die größte Anlaufstelle für queere Flüchtlinge aus der Ukraine -  nach wie vor nimmt die Zahl der geflüchteten Menschen aus der Ukraine-Krieg nicht ab, immer mehr müssen aus ihrer völlig zerstörten Heimat fliehen. LGBTI*-Organisationen wie Forbidden Colours rechnen mit mindestens 600.000 queeren Flüchtlingen aus der Ukraine.

In Deutschland schlossen sich deswegen rund 50 queere Gruppen zur Queeren Nothilfe Ukraine zusammen, um gebündelt und organisiert helfen zu können. Auch dabei ist die Schwulenberatung Berlin, eine der zentralen Anlaufstellen für LGBTI*-Flüchtlinge in Deutschland.

Stephan Jäkel ist Abteilungsleiter für HIV-STI-Prävention und Flucht der Schwulenberatung Berlin und erzählte uns von der aktuellen Situation der queeren Geflüchteten in Deutschland.

 

Stephan Jäkel ist Abteilungsleiter für HIV-STI-Prävention und Flucht der Schwulenberatung Berlin // © Privat

Mitte Februar fielen die ersten Bomben in der Ukraine, kurz darauf flüchteten die ersten Menschen aus dem Land, darunter auch viele queere Personen. Wie war die Situation in den ersten Tagen in Berlin?

Es gab in den ersten zwei Wochen überhaupt kein geregeltes Verfahren. Berlin war ein großer Hotspot, wo ganz viele Busse und Züge angekommen sind. Die Stadt hat im Stundentakt neue Notunterkünfte aufgebaut, teilweise in Kirchen oder Turnhallen, da gab es natürlich kein LGBTI*-Schutzkonzept. Deshalb brauchte es sehr schnell erst einmal eine Community-Struktur, damit queere Geflüchtete auch über Nacht bei Freunden und Bekannten unterkommen konnten. Teilweise haben LGBTI*-Personen die ersten Tage auf der Straße geschlafen. Ohne viele ehrenamtliche Helfer wäre das alles nicht zu schaffen gewesen. Hut ab vor den ganzen ehrenamtlichen Strukturen, die sich da ad hoc gebildet haben.

 

Inzwischen läuft die Organisation vor Ort deutlich besser ab und Berlin hat grundsätzlich erste Strukturen geschaffen – wie sehen diese für queere Geflüchtete aus?

Der Berliner Senat hat einen Beschluss gefasst, in dem Bedürfnisse queerer Geflüchtete zum Teil Rechnung getragen wird. Nicht verheiratete Paare, auch gleichgeschlechtliche, sollen nicht getrennt werden. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber gut, dass es festgeschrieben ist. Trans-Geflüchtete sollen in Berlin bleiben oder nur in einen Ort mit gleicher Beratungsstruktur und Versorgung verteilt werden.

Andere LGB-Geflüchtete sollen möglichst in jene Bundesländer verteilt werden, in denen es auch eine Community-Struktur und Versorgung gibt – sofern sie nicht in Berlin bleiben können. Aber da steht natürlich ein “möglichst“ im Text, es gibt also keine Garantie. Zudem wird nur von “Bundesländern“ gesprochen, somit ist vollkommen offen, ob queere Menschen dann auf dem platten Land landen oder in einer Stadt mit Community-Anbindung.

 

Das heißt, hier besteht noch dringend Nachholbedarf von staatlicher Seite?

Wir brauchen dringend eine Positivliste, in der berücksichtigt wird, dass LGBTI*-Menschen nur in die Städte kommen, in denen es auch eine entsprechende Community-Struktur und Versorgung gibt. Die neue Verteilsoftware „free“ des Bundesinnenministeriums (BMI), die Anfang Mai eingeführt wurde, könnte dies bewerkstelligen, wenn dies politisch gewollt ist. Das gilt für queere Menschen gleichermaßen wie für Menschen mit HIV und suchtkranke Menschen, die Substitution erhalten.

 

Die Unterbringung und die Verteilung sind also noch Problemfelder, die gerade für queere Geflüchtete besonders elementar sind. Welche Ängste sind besonders stark ausgeprägt bei LGBTI*-Flüchtlingen?

Sehr viele queere Menschen wollen sich aus Angst vor Diskriminierung und Homo- sowie Transfeindlichkeit nicht in den Sammelunterkünften unterbringen lassen. Sie versuchen das weitestgehend zu vermeiden und leben derzeit als Gäste in Privatwohnungen. Viele LGBTI*-Geflüchtete beschäftigt die große Sorge, dass sie bei einer Verteilung möglicherweise in ländlichen Regionen ohne Community-Anschluss untergebracht werden.

Wir fordern, dass bei Verteilungsmechanismen auch die Bedürfnisse der queeren Menschen besser berücksichtigt werden. Das ist übrigens auch eine präventive Maßnahme der Gesundheitsförderung. Menschen sind soziale Wesen und wir brauchen den Austausch untereinander. Der praktisch verwehrte Zugang zur Community und LGBTI*-sensibler medizinischer Versorgung hat die Isolation von queeren Geflüchteten und damit auch konkrete, negative gesundheitliche Auswirkungen wie Depression und Suizidalität zur Folge.

Die individuellen und gesellschaftlichen Folgeprobleme, die sich daraus ergeben, sind wesentlich größer, als wenn wir gleich von Beginn an besser auf die queeren Bedürfnisse eingehen würden.

 

Wie gehen LGBTI*-Menschen mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um?

Die erlebten Folgen des Krieges führen natürlich oftmals zu komplexen und multiplen Traumatisierungen, doch diese Erfahrungen kommen zumeist erst verzögert zum Vorschein. In den ersten Tagen oder Wochen nach der Flucht kapselt unsere Psyche diese traumatischen Erlebnisse ab und versteckt sie oftmals, was ja auch eine gute Überlebensstrategie ist. Erst wenn die sozialen Rahmenbedingungen gesichert sind und die Geflüchteten eine längerfristige Unterbringung haben, kann hier eine Aufarbeitung beginnen.

 

Der Großteil der geflüchteten queeren Menschen aus der Ukraine sind Frauen. Schwule und trans-Frauen ohne Personenstandänderung unterliegen noch immer der Generalmobilmachung der ukrainischen Streitkräfte. Sind die queeren Frauen, die nach Deutschland kommen, auch der Gefahr ausgesetzt, von Zuhältern oder Frauenhändlern verschleppt zu werden?

Ein Großteil der geflüchteten Menschen sind Frauen und somit sind natürlich auch lesbische Frauen darunter. Von daher sind auch sie in Gefahr, solchen Verbrechen zum Opfer zu fallen. Nur weil mir persönlich kein Vorfall berichtet worden ist, schmälert dies nicht die grundsätzliche Gefahr für lesbische Frauen.

 

Die erlebten Folgen des Krieges führen oftmals zu komplexen und multiplen Traumatisierungen // © nito100

Ein Kritikpunkt ist immer wieder, dass queere Flüchtlinge aus der Ukraine, die ursprünglich aus Drittländern wie beispielsweise Tschetschenien kommen, in Deutschland keinen visumfreien Asylaufenthalt bekommen. Wahrscheinlich werden sie zeitnah in ihre ursprüngliche Heimat abgeschoben, was für LGBTI*-Menschen besonders dramatisch ist, denn zumeist sind sie ja einst aufgrund von Queerfeindlichkeit in die Ukraine geflohen. Die EU-Kommission hat es den Mitgliedsstaaten freigestellt, wie sie hier verfahren wollen – Deutschland scheint dabei weiter auf Blockadepolitik zu setzen.

Da entsteht viel Frust und Wut, nicht nur bei den Geflüchteten, sondern auch bei uns als Organisation. Letztendlich ist es Rassismus, Gruppen von Menschen, die aus den gleichen Gründen vor demselben Krieg geflüchtet sind, nach Staatsangehörigkeiten zu sortieren und unterschiedlich zu behandeln.

Wir fordern mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen, dass hier nachgesteuert und der §24 Aufenthaltsgesetz auch für drittstaatenangehörige Geflüchtete ermöglicht wird. Auch für queere Drittstaatenangehörige ist das elementar wichtig.

 

Wie ist die Situation der Unterbringung von queeren Flüchtlingen inzwischen?

Es gibt nach wie vor einen großen Mangel an regulären und offiziellen Unterbringungsmöglichkeiten für queere Menschen. Private Unterbringung im Gästezimmer oder auf der Wohnzimmercouch ist ein tolles Engagement von Wohnungsanbietern aus der Community, aber keine adäquate, langfristige Möglichkeit.

Es ist kein gleichberechtigtes Miteinander, sondern produziert Abhängigkeitsverhältnisse und damit Probleme. Queere Geflüchtete brauchen am besten einen eigenen Mietvertrag und zur Überbrückung einen Platz in einer geschützten offiziellen Unterbringung.

Wir fordern deswegen seit Wochen vom Berliner Senat eine zweite queere Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine unabhängig von der Staatsangehörigkeit mit mindestens 80-100 Plätzen.

 

Hoffen wir, dass die Forderungen bald gehört werden. Die Schwulenberatung Berlin erlebt aber auch viel Positives – gerade mit Blick auf die queere Community aus der Ukraine. 

Queere Menschen aus der Ukraine sind untereinander sehr gut vernetzt und geben sich praktische Tipps, gerade wenn es um Erfahrungen mit Beratungsstellen oder bürokratische und organisatorische Fragen geht. Oftmals nehmen queere Menschen auch schon vor der Flucht Kontakt mit uns oder anderen queeren Organisationen auf. Die queere Community hat da einen besonderen Zusammenhalt und das finden wir wirklich großartig.

 

Weitere Informationen sowie Möglichkeiten für Spenden und aktive Hilfe gibt es unter www.schwulenberatungberlin.de sowie www.queere-nothilfe-ukraine.de

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