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Survival Guide für Weihnachten

Survival Guide für Weihnachten Zwischen gutgemeinten Ratschlägen und Debatten über LGBTIQ+

ms - 22.12.2025 - 14:00 Uhr
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Wir sind selbstbewusst, feiern alljährlich den Pride und treten stolz für unsere LGBTIQ+-Rechte ein – bis kurz vor Weihnachten. Dann packen wir unsere sieben Sachen zusammen und fahren in die alte Heimat, zurück zu den Eltern, den Verwandten und zumeist mindestens zu einem Onkel oder einer Tante, die direkt noch während der Begrüßung nach unserem Beziehungsstatus fragt oder kurz darauf erklärt, dass es „diese queeren Menschen“ in den Großstädten schon ziemlich übertreiben. 

Da spielt es oftmals auch keine Rolle, ob wir ungeoutet sind oder bereits allgemein bekannt ist, dass wir beispielsweise schwul oder lesbisch sind. „Aber du bist doch so ein hübsches Mädchen“, raunt da die liebe Tante und schiebt nach, ob es nicht doch einen „netten Jungen“ für einen gebe. Dem schwulen jungen Mann wird verheißungsvoll zugeflüstert, man kenne da ein ganz „liebes Mädel“, das genau die Richtige für einen sei. 

Zurück in die Kinderrolle? 

Fürwahr ein Klischee und eines, das nicht überall bei allen von uns Realität ist, zum Glück – bei zu vielen von uns aber doch noch immer, wenn man sich kurz vor Weihnachten im Freundeskreis umhört. Gerade bei jungen queeren Menschen gleicht die Fahrt in die ländliche Heimat oftmals dem Gang nach Canossa. Wer noch nicht geoutet ist, durchlebt die ganze Vielfalt eines zähen Versteckspiels, untermauert von zu viel Gänsebraten und Knödeln. Wer sich bereits geoutet hat, ist trotzdem nicht gefeit davor, sich immer und immer wieder erklären zu müssen, zumeist gerne untermalt von Sätzen wie „Wir meinen es nur gut für dich.“ 

Dabei erleben gerade junge homosexuelle und queere Söhne und Töchter, dass sie selbst unbewusst und scheinbar fremdbestimmt in die Kinderrolle zurückfallen, aus der sie doch eigentlich längst herausgewachsen sind. Egal, ob du erfolgreich im Job bist oder seit Jahren eine feste Beziehung hast, am Esstisch bei Klößen und Rotkohl wird man verbal wieder 12 Jahre alt und muss sich kleinkindlich rechtfertigen. Diese kurzzeitige Rückentwicklung ist etwas, das auch psychisch nachwirken kann. Ein Bekannter erklärte mir neulich: „Ich habe mich bereits vor Jahren geoutet, aber trotzdem fühle ich mich manchmal als Betrüger und irgendwie schuldig, einfach, weil ich einen Teil meines Lebens zurückhalte, in gewisser Weise noch immer verstecke. Man will an Weihnachten keine Probleme machen, also schweigt man über vieles, was im restlichen Jahr zu meinem Leben als schwuler Mann einfach dazugehört.“ 

"Erklärbär" für LGBTIQ+-Themen

Die Familie bleibt ein besonderer Ort für die meisten von uns, selbst wenn wir inzwischen offen zu unserer Sexualität oder Geschlechtsidentität stehen. Und selbst dann, wenn die Eltern oder die Familie unterstützend und positiv eingestellt ist, erleben viele von uns trotzdem schlichtes Unwissen über die Lebensrealität von LGBTIQ+-Menschen. Und es kann mitunter anstrengend sein, Jahr für Jahr den „Erklärbär“ spielen zu müssen – selbst, wenn es unser Gegenüber tatsächlich und von Herzen gut mit uns meint. Noch schwieriger werden die Feiertage für all jene, die noch nicht geoutet sind. Will man gerade an Weihnachten „alles aufs Spiel“ setzen und mit einem Coming-Out hinterfragen, wie sehr die Familie wirklich zu einem steht? 

Wegbleiben? Wirklich die Lösung?!

Natürlich bleibt es am Ende jedem von uns selbst überlassen, wie wir mit jenen Tagen umgehen, doch vielleicht können wir uns in diesem Jahr ein bisschen besser schützen oder wappnen vor verbalen Attacken? Oftmals reicht es bereits, eine Grenze zu ziehen, um nicht selbst emotional verletzt zu werden. Die Weihnachtsfeiertage dürfen schön sein, auch für queere Menschen. Wir müssen uns weder rechtfertigen noch ständig als „Sonderfall“ in der Familie behandelt werden. Natürlich könnte man einfach wegbleiben und mit seiner Wahlfamilie aus Freunden feiern. 

Doch für viele kommt das einem Bruch mit der biologischen Familie gleich. Man will keine Diskussionen führen müssen, aber trotzdem die eigenen Eltern gerne sehen – Weihnachten bleibt für viele eine besondere Jahreszeit, verbunden mit vielen positiven und glücklichen Emotionen und Erinnerungen. Wie wichtig einem Weihnachten zu Hause ist, ist daher ein zentraler Punkt für queere Menschen. Für wen mache ich das? Was suche ich eigentlich bei meiner Familie? Erst wer diese Fragen ehrlich für sich beantwortet hat, kann entscheiden, wie es weitergeht.

Schwierige Gespräche oder einfach Augen zu?

Wer sich dann für Weihnachten im Kreis der Familie entscheidet und trotzdem befürchtet, das könnte nicht ganz unbelastet vonstattengehen, der sollte sich einen Notfallkontakt zurechtlegen – eine beste Freundin beispielsweise, die telefonisch oder via Chat erreichbar ist und einem mental zur Seite steht, wenn es emotional brennt. Therapeuten empfehlen, ein Journal zu führen, also aufzuschreiben, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen und was einen belastet. Das hilft, die Spannungen abzubauen. 

Wird man dann zum Beispiel mit der kritischen Tante und ihren unbewusst diskriminierenden Fragen und Aussagen konfrontiert, gilt es, sich selbst die Frage zu stellen: Ist es mir das wert? Will ich meine Energie und Kraft darauf verwenden, jetzt zu widersprechen? Oder ist es mir wichtiger, dass es mir gut geht und ich den Moment genieße und das Negative ausblende? Da ist keine Form der Verleumdung, wir klettern nicht mental „back into the closet“, zurück in den Schrank, sondern wir schützen uns damit nur. Eine vollkommen legitime Handlung, die kein schlechtes Gewissen machen muss. Wer die Lust und die Kraft hat, mit Argumenten gegenzusteuern, kann das tun – und wer nicht so schlagfertig ist, kann sich vorab gute Argumente oder Sprüche zurechtlegen zu den alljährlich gleichen Phrasen. 

Bleibt die Dissonanz trotzdem bestehen, kann mit einem Satz wie „Hey, wir sind hier verschiedener Meinung und das ist doch okay so“ auch die Debatte beenden. Man bleibt sich treu und muss sich bewusst machen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, jemand anderen zu überzeugen. Bleiben die Gespräche schwierig, weil man merkt, wie man doch wieder gedanklich zum Kind wird, das brav sein soll, ist ein Abbruch der Situation ratsam. Ist man emotional wieder gefestigt, kann man sich, wenn man will, erneut der Ausgangslage stellen. Auch körperliche Bewegung kann hier helfen – spazieren gehen, joggen oder sich mit alten Freunden treffen. 

Kommunikation als Schlüssel 

Wer Weihnachten bei der Familie sein will und trotzdem starke Bedenken hat, kann das auch vorab direkt ansprechen: „Ich habe das Gefühl, ich kann bei euch nicht so sein, wie ich bin – ich überlege, deswegen nicht zu kommen.“ Ein Satz, der die Situation auf beiden Seiten positiv entladen kann und zu einem sehr konstruktiven Gespräch werden kann – viele Eltern sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass Weihnachten für ihre queeren Kinder emotional anstrengend sein kann. Im besten Fall agieren die Eltern dann als Allys und weisen den fiesen Onkel verbal selbst in die Schranken. Frohe Weihnachten!

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