Coming Out Tag 2025 Viele Sorgen, alte und neue Probleme beim Outing in der Gen-Z
Morgen (11.Oktober) feiern wir international den Coming-Out-Tag. Doch wie geht es jungen homosexuellen und queeren Menschen damit tatsächlich im Jahr 2025? SCHWULISSIMO fragte nach bei Sven Norenkemper vom Jugendberatungsverein Coming Out Day.
Kann man junge Menschen denn in der aktuellen Lage überhaupt noch dazu ermutigen, sich zu outen, angesichts einem Rollback und steigenden Fällen von Hasskriminalität gegenüber queere Menschen?
Ja, ich finde, gerade jetzt ist es wichtig, junge Menschen zu ermutigen – aber mit viel Fingerspitzengefühl. Das Coming-Out ist kein Selbstzweck, sondern ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung. Und genau diese Selbstbestimmung gerät momentan durch gesellschaftliche Rückschritte unter Druck. Deshalb braucht es heute mehr denn je Schutzräume, verlässliche Begleitung und Menschen, die sagen: Du bist okay, wie du bist – und du bist nicht allein. Outings dürfen nie erzwungen werden. Aber sie dürfen möglich sein – ohne Angst, ohne Scham. Dafür setzen wir uns ein.
Hat sich das Coming-Out in den letzten Jahren verändert? Und was ist vielleicht auf der anderen Seite gleich geblieben?
Was gleichgeblieben ist: Viele junge Menschen fühlen sich zunächst allein mit ihren Fragen. Das war 1994 so, und das ist es auch heute noch oft. Was sich verändert hat, ist der gesellschaftliche Rahmen. Es gibt mehr Sichtbarkeit, mehr Sprache für unterschiedliche Identitäten – das ist eine große Chance. Gleichzeitig erleben wir, dass der Druck gewachsen ist: sich früh zu labeln, sich öffentlich zu erklären, alles „richtig“ zu machen. Früher war das Coming-Out oft ein stiller, innerer Prozess. Heute ist es viel stärker mit Öffentlichkeit verknüpft – das kann empowernd sein, aber auch überfordern.
Vor dem Internetzeitalter fühlten sich viele junge homosexuelle Menschen oft vollkommen allein gelassen – der klischeehafte einzige Schwule im Dorf. Heute können Jugendliche durch soziale Medien sehr früh Kontakte knüpfen. Hilft das beim Coming-Out?
Das Internet ist Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite ist es ein riesiger Fortschritt, dass junge Menschen heute online Vorbilder finden, sich informieren, sich vernetzen können. Niemand ist mehr die:der einzige Queer im Dorf, denn das Dorf ist jetzt die virtuelle Welt. Auf der anderen Seite bringt das auch neue Herausforderungen mit sich: Hate Speech, toxische Schönheitsideale, gefährliche Bubbles. Es braucht deshalb digitale Räume, die wirklich sicher sind – gerade für queere Jugendliche. Lambda Space zum Beispiel soll so ein Raum werden, unser Beratungsangebot „Coming out… und so!“, jetzt auch mit Videoberatung, ist ein anderer.
Im Sommer dieses Jahres gab es durch den Digital Service Act bereits erste Auswirkungen in Deutschland, tausende Konten auf X beispielsweise wurden stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird seitens der Union und der SPD offen über ein Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 16 Jahren diskutiert am Vorbild Australien. Wie blicken Sie auf solche Maßnahmen?
Für viele ist das Internet ein elementarer Raum, in dem sie sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, Vorbilder entdecken und erste solidarische Erfahrungen sammeln können. Wenn dieser Zugang vollständig verschlossen wird, verlieren sie eine wichtige Brücke – insbesondere dort, wo es vor Ort keine anderen geschützten Räume oder Ansprechpersonen gibt. Dies vorausgeschickt halte ich einen altersbeschränkten Zugang zu sozialen Medien durchaus für sinnvoll – ja, überfällig. In vielen Lebensbereichen gibt es ja vergleichbare Regelungen. Denken wir etwa an den Konsum von Alkohol oder den Kinobesuch: Auch hier dürfen Jugendliche erst ab bestimmten Altersgrenzen bestimmte Inhalte konsumieren oder erleben. Das schützt sie vor Risiken und stellt sicher, dass sie erst in einem passenden Entwicklungsrahmen an solche Angebote herangeführt werden. Wir sprechen hier aber von Kindern, nicht von Jugendlichen. Bereits heute setzen Plattformen wie Instagram, TikTok oder X Altersrichtlinien um – häufig ist ein Account ab 13 Jahren erlaubt, ab 16 oder 18 Jahren entfällt die elterliche Einwilligung. Eltern können beispielsweise die Nutzung ihres Kindes überwachen oder einschränken – darauf setzen Verantwortliche bei jugendgerechten Formaten.Die Leopoldina hat in ihrer aktuellen Empfehlung einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Sie plädiert dafür, eigene Accounts in sozialen Netzwerken erst ab 13 Jahren zu erlauben, Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren nur mit aktiver elterlicher Begleitung, und Plattformen sollten für 13- bis 17-Jährige technische Schutzmaßnahmen einrichten – etwa keine personalisierte Werbung, keine auf Dauer ausgelegten Nutzerprofile oder automatische Pausen bei längerer Nutzung.
Wie wird mit dem Thema Coming-Out denn inzwischen an Schulen umgegangen?
Die Schule ist für viele queere Jugendliche nach wie vor ein herausfordernder Ort. Mobbing, Unverständnis, Ausgrenzung – das begegnet uns leider immer wieder in der Beratung. Es gibt auch positive Beispiele: Schulen, in denen queere Themen offen behandelt werden, in denen Lehrkräfte sensibilisiert sind und queere AGs existieren. Aber das ist längst nicht überall der Fall. Wichtig ist, dass Coming-Out in der Schule nicht zur Mutprobe wird, sondern eine Option unter sicheren Bedingungen. Dafür braucht es klare Haltung in der Schulleitung, Fortbildungen für Lehrkräfte und queere Sichtbarkeit im Unterricht.
Was sind die drängendsten Fragen, mit denen sich junge queere Menschen in puncto Coming-Out an den Verein wenden?
Ganz oben stehen Fragen wie: „Wie sage ich es meinen Eltern?“, „Was, wenn ich nicht sicher bin, ob ich schwul, bi oder queer bin?“ oder „Ich bin trans – aber ich weiß nicht, wie ich das jemandem sagen soll.“ Viele junge Menschen ringen mit innerer Unsicherheit, aber auch mit Angst vor Ablehnung, Einsamkeit oder sogar Gewalt. Oft geht es auch um Depressionen, um Suizidgedanken, um die Sehnsucht, einfach normal sein zu dürfen. Unsere Video-, Messenger- und Mailberatung ist für viele ein erster, geschützter Raum, um all das zu sortieren.
Wie reagieren denn die meisten Eltern inzwischen auf das Coming-Out ihrer Kinder? Gibt es immer noch Kommentare wie „Was haben wir falsch gemacht?“ oder sind Eltern heutzutage offener und aufgeklärter?
Beides kommt vor. Es gibt Eltern, die reagieren liebevoll, unterstützend und interessiert – das ist wunderbar. Aber es gibt auch immer noch viele, die mit Überforderung, Unsicherheit oder sogar Ablehnung reagieren. Die Frage „Was haben wir falsch gemacht?“ hören wir tatsächlich immer noch. Deshalb sprechen wir oft auch von einem „Coming-Out der Eltern“ – sie müssen ihren eigenen Weg finden, mit der Identität ihres Kindes umzugehen. Unsere Aufgabe ist es, auch ihnen Angebote zu machen, die Ängste nehmen, Informationen bieten und Verständnis fördern.
In meiner Jugend gab es diese Diskrepanz zwischen genereller Homosexualität und jener im Familien- und Freundeskreis. Sprich, ganz allgemein sprachen sich viele positiv zum Thema aus, betraf es aber jemanden, den man persönlich kannte, wurde es plötzlich zum Problem. Ist das heute auch noch so?
Diese Diskrepanz existiert leider weiterhin. Viele Menschen sind auf dem Papier total offen – solange es sie nicht selbst betrifft. Wenn dann das eigene Kind, der beste Freund oder die Arbeitskollegin sich outet, kippt die Stimmung manchmal. Dann wird es plötzlich unbequem. Das zeigt: Akzeptanz ist oft abstrakt, aber im Konkreten noch nicht selbstverständlich. Hier braucht es mehr persönliche Begegnungen, mehr Geschichten, mehr Alltag mit queeren Menschen – erst dann entsteht echte Offenheit.
Gibt es aus Ihrer Erfahrung heraus heutzutage Unterschiede, ob sich ein Jugendlicher als homo-, bisexuell oder als trans*, queer oder nicht-binär outet?
Ja, die gibt es. Ein Coming-Out als schwul, lesbisch oder bi wird heute oft besser verstanden – auch wenn es immer noch Mut erfordert. Aber beim Coming-Out als trans* oder nicht-binär stoßen viele Jugendliche auf mehr Fragen, mehr Skepsis und oft auch auf mehr Ablehnung. Das liegt auch daran, dass es dafür weniger gesellschaftliche Vorbilder und noch immer viel Unwissen gibt. Plus: Das Thema ist leider ein politischer Kampfbegriff geworden, bei dem es längst nicht mehr um eine differenzierte oder auch kritische Betrachtung und Diskussion geht, sondern um Meinungsmache und das Schüren von Vorurteilen und Hass. Auch deshalb sehen wir hier einen deutlich höheren Beratungsbedarf – und auch eine noch größere psychische Belastung.
In welchem Alter outen sich die meisten Jugendlichen? Wie lange dauert der Prozess des Coming-Outs? Und gibt es ein Ranking, also sprich, bei wem wird sich zumeist zuerst geoutet und bei wem zuletzt?
Im Bereich der sexuellen Identität liegt der Meridian weiterhin bei etwas über 18 Jahren. Aber was viele nicht wissen: Der innere Prozess beginnt oft Jahre vorher. Viele überlegen vier, fünf Jahre, bevor sie das erste Mal mit jemandem sprechen. Und ja, es gibt eine gewisse Reihenfolge: Meist zuerst bei engen Freund:innen oder online, dann vielleicht bei Geschwistern oder Vertrauenspersonen in der Schule. Eltern kommen oft später – weil dort die Angst vor Ablehnung besonders groß ist und eben auch das Risiko bei Ablehnung in der persönlichen Freiheit eingeschränkt zu werden, beispielsweise durch Verbote Freunde zu treffen oder Social Media zu nutzen. Aber das ist individuell hoch verschieden.
Das Coming-Out war früher eng mit dem Wunsch verbunden, erste romantische sowie auch sexuelle Erfahrungen zu machen. Erster Sex, erste Liebe, erste Beziehung. Sind diese Wünsche heute auch noch von zentraler Bedeutung?
Diese Wünsche sind absolut noch da – und genauso berechtigt wie bei allen anderen jungen Menschen. Erster Kuss, erste Verliebtheit, erste Beziehung: Das sind Meilensteine, die queere Jugendliche genauso erleben wollen. Was sich verändert hat, ist die Vielfalt der Möglichkeiten – Dating-Apps, Online-Communitys, andere Beziehungsmodelle. Aber auch der Druck ist größer geworden: „Bin ich attraktiv genug?“, „Wie verhalte ich mich richtig?“ – da braucht es Begegnung, Raum für Unsicherheiten und vor allem: Menschen, die zuhören, statt zu urteilen.
Gibt es Aspekte beim Coming-Out, die aus Ihrer Erfahrung heraus bis heute zu wenig mitgedacht werden?
Ja, ein großes Thema ist Einsamkeit – vor dem Coming-Out, aber eben nicht selten auch danach. Wer out ist, ist nicht automatisch frei von Zweifeln oder dem Alleinsein. Gerade Jugendliche im ländlichen Raum berichten von Isolation, fehlenden Ansprechpersonen, dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Ein zweiter blinder Fleck ist das Erkennen und Wertschätzen der unterschiedlichen Bedarfe von lesbischen, schwulen, bi, trans*, non-binary (…) Jugendlichen - diese liegen oft Welten auseinander. Nicht alle wollen immer alles gemeinsam machen, es gibt auch den Bedarf nach eigenen Räumen oder Zeiten. Zielgruppenspezifische Angebote sind hier ein wichtiger Ort, um die eigene Identität und Persona entwickeln zu können, um dann wieder Settings zu haben, wo Begegnung aller stattfinden kann. Beides hat seine Wichtigkeit.
Herr Norenkemper, vielen Dank für das Gespräch.