Essstörungen in der Community Ein großes Problem, ein noch größeres Tabu
Zu dick? Dann iss doch weniger! Zu dünn? Dann iss doch was! So einfach wie immerzu gehört, ist das Thema keineswegs. Essstörungen sind ein großes Problem, besonders in der Community. 80 Prozent der Betroffenen gehören zur Gen-Z, die sich selbst zu 22 Prozent als LGBTIQ+ definiert.
Homosexuelle und queere Menschen sind doppelt so häufig von Essstörungen betroffen wie der Durchschnitt – und die Zahlen steigen immer weiter an. Was tun? SHALK ist die Anlaufstelle für suchtkranke queere Menschen, seit einem Jahr gibt es nun auch eine Gruppe für Personen mit Essstörungen, SHALK EATS. SCHWULISSIMO sprach mit Gründer Mathias Karus.
Mathias, seit einem Jahr gibt es eure Essstörungsgruppe. Wie kam es dazu?
Entstanden ist die Gruppe eigentlich aus eigener Betroffenheit. Ich selbst bin nicht nur suchterkrankt und seit über 17 Jahren bei SHALK aktiv, sondern lebe auch mit Binge Eating, also wiederkehrende Essanfälle mit Kontrollverlust. Ich habe SHALK EATS gegründet, um meine positiven Erfahrungen in der Selbsthilfe einer „normalen SHALK-Gruppe“ auf ein Thema zu übertragen, das mich und viele andere queere Menschen tief bewegt. Die Gruppe ist bewusst online und damit NRW-weit zugänglich. Das vergrößert den Kreis potenzieller Teilnehmender – und ermöglicht es Menschen, in ihrer sicheren Umgebung zu bleiben, sichtbar nur so viel, wie sie selbst möchten.
Essstörungen sind gerade in der jungen und queeren Generation ein besonders großes Problem. Warum?
Minderheiten wie LGBTIQ+ stehen unter erhöhtem Druck – besonders dann, wenn jemand gleich mehreren diskriminierten Gruppen angehört. Das führt insgesamt zu einer höheren Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Junge Menschen haben noch keinen „Werkzeugkoffer“ an psychischen Bewältigungsstrategien – das macht sie besonders verletzlich. In solchen Situationen werden Essstörungen schnell zu einem Mittel, um mit inneren Spannungen umzugehen – wie auch andere Suchterkrankungen.
Wie stark ausgeprägt ist generell das Problem Essstörung in der Community?
Sehr stark – nur oft unsichtbar. Viele outen sich eher als queer als mit ihrer Essstörung, weil das Schamgefühl riesig ist. Gerade Binge Eating ist oft mit Kontrollverlust und Schuld verbunden. Und Dinge wie Bulimie oder restriktives Essen werden manchmal sogar noch bewundert – Stichwort „Disziplin“. Manche weiblich gelesenen Menschen erleben zum Beispiel, dass sie durch restriktives oder selektives Essen gezielt ihren Körper „modellieren“, um nicht zu weiblich zu wirken – auch das ist ein Schutzmechanismus. Ein wichtiges Thema ist auch die sogenannte Muskelsucht oder Bigorexie – der extreme Drang nach Muskelaufbau. Das wird oft gar nicht als Essstörung erkannt, obwohl es dieselbe emotionale Funktion erfüllt: Kontrolle, Anerkennung, Dazugehören.
Vielerorts in der Community gibt es noch ein großes Tabu, darüber offen zu sprechen – warum?
Weil viele queere Menschen schon so viel durchgemacht haben, dass sie nicht auch noch als „psychisch krank“ gelten wollen. Weil es oft heißt: „Sei stark, sei stolz, sei sichtbar“ – da passt Schwäche irgendwie nicht rein. Und weil die Scham tief sitzt. Gerade in queeren Räumen, die stark auf Ästhetik, Szene und Außenwirkung setzen, ist das Reden über Scham, Körperhass oder Kontrollverlust nicht leicht und von anderen vielleicht als störend empfunden.
Gerade unter schwulen Männern gibt es bis heute auch eine Jugendkultur. Warum tun wir uns das immer noch an?
Weil der Körper in der Szene oft als Eintrittskarte funktioniert. Weil Dating-Apps, Partykultur und Social Media ständig suggerieren: So musst du aussehen, damit du gesehen wirst. Und weil viele von uns gelernt haben: Schönsein bedeutet Schutz. Wer attraktiv ist, wird weniger abgelehnt – glauben wir zumindest. Aber das hat einen Preis. Und den zahlen viele mit ihrem Selbstwert – und mit gestörtem Essverhalten.
Essen und Emotionen gehen oft eine verhängnisvolle Verbindung ein – mit Essen sollen Emotionen verstärkt, verändert oder ertragen werden. Wie funktioniert das genau? Und gibt es einen Weg da raus?
Essen ist oft nicht das eigentliche Problem – sondern die Lösung für etwas anderes. Viele nutzen Essen, um Gefühle zu regulieren: Traurigkeit, Einsamkeit, Wut, Leere. Manche hungern, um Kontrolle zu spüren. Andere essen heimlich, um sich zu trösten. Der Weg da raus? Nicht einfach „normal essen“, sondern: sich selbst verstehen, sich erlauben, zu fühlen – und sich Hilfe holen. Zum Beispiel in einer Gruppe. Da, wo man merkt: Ich bin nicht allein damit.
Wird die Krankheit bis heute verharmlost?
Ja, leider. Man hört oft Sätze wie: „Du siehst doch gar nicht krank aus“, „Iss doch einfach wieder was“, oder im Gegenteil: „Du isst halt gern – na und?“ Gerade Binge Eating wird selten ernst genommen – obwohl es die häufigste Form ist. Ich habe sogar von mir nahestehenden Menschen Bemerkungen gehört wie: „Guck mal, da ist wieder jemand für deine Gruppe“, wenn ein übergewichtiger Mensch vorbeiging.
Das zeigt, wie tief das Unverständnis sitzt. Binge Eating ist nicht dasselbe wie Adipositas – es kann damit einhergehen, aber man muss differenzieren. Solche Kommentare führen dazu, dass man sich nicht ernst genommen fühlt. Bei mir war das letztlich der Anstoß, weiterzumachen – um genau diesen Menschen zu zeigen, dass Selbsthilfe auch bei Essstörungen funktionieren kann. Und klar: Ich mache das nicht uneigennützig – ich bin selbst betroffen. Und ich erfahre durch die Gruppe auch selbst Hilfe.
Welche Rolle spielen deiner Meinung nach die von dir bereits angesprochenen sozialen Medien?
Eine große. Soziale Medien zeigen ständig perfekte Körper, makellose Leben und vermeintlich „gesunde“ Ernährung. Besonders queere Menschen orientieren sich dort – weil es im echten Leben oft wenig Vorbilder gibt. Das Problem ist: Man vergleicht sich ständig. Und fast immer verliert man dabei.
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie forderte als Reaktion auf die jüngsten Daten rund um Essstörungen strengere Regeln für die Nutzung von Online-Netzwerken für Jugendliche. Kann das die Lösung sein?
Ich bin der Meinung, Regeln allein bringen gar nichts! Es braucht Aufklärung! Medienkompetenz sollte schon von klein auf vermittelt werden. Ich glaube, wenn Menschen ein sicheres und stabiles Umfeld haben, sind sie in der Lage, mit diesen Medien verantwortungsvoll umzugehen – dann braucht es keine weiteren Reglementierungen. Ich finde, die Politik sollte sich für diesen Bereich einsetzen. Wenn das geschieht, braucht es womöglich keine zusätzlichen Regeln.
Welche Arten von Essstörungen sind besonders stark ausgeprägt in der LGBTIQ+-Community?
Binge Eating: Die häufigste Form, sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch in queeren Gruppen. Besonders oft bei queeren Männern und Frauen, die mit Stigmatisierung oder Queerfeindlichkeit kämpfen. Bulimie, also Ess-Brech-Sucht: Deutlich überrepräsentiert bei schwulen Männern und trans Personen. Studien zeigen ein mehrfach erhöhtes Risiko im Vergleich zu heterosexuellen Gruppen. Anorexia nervosa, also Magersucht: Häufiger bei lesbischen, bisexuellen Frauen und bei trans Jugendlichen – oft getriggert durch Körpernormen oder dysphorisches Körpererleben. Orthorexie / selektive und andere atypische Essstörungen: Keine offizielle Diagnose im DSM-5, aber in LGBTIQ+-Kreisen häufig diskutiert. Besonders präsent in Fitness- oder „Clean Eating“-orientierten Subkulturen, zum Beispiel schwule Szene. Diese Menschen fallen oft nicht als „essgestört“ auf.
Während sich die Zahl der Männer mit der klinischen Diagnose Essstörung in den letzten zwanzig Jahren halbiert hat, haben sich die Zahlen bei jungen Frauen verdoppelt. Experten gehen davon aus, dass diese Daten möglicherweise verzerrt sind, schlicht deswegen, weil Essstörungen bis heute als ein „weibliches“ Problem angesehen werden. Sind diese Klischees noch immer stark ausgeprägt?
Ja. Essstörungen werden gesellschaftlich oft als „weibliches Problem“ betrachtet. Das hat Folgen: Menschen, die nicht in dieses Klischee passen, bekommen seltener eine Diagnose, suchen später Hilfe oder benennen ihre Symptome gar nicht. Dazu kommt Scham – einmal wegen der Essstörung selbst und zusätzlich, weil sie vermeintlich „nicht ins Bild“ passt. Fakt ist: Bestimmte Formen wie Anorexie treten häufiger bei bestimmten Gruppen auf, aber insgesamt ist das Bild verzerrt. Essstörungen wie Bulimie oder Binge Eating betreffen Menschen aller Geschlechter. Besonders in queeren und trans Communitys sehen wir eine deutlich erhöhte Betroffenheit. Es leiden mehr Menschen, als die offiziellen Statistiken zeigen. Die Zahlen unterschätzen die Realität, weil stereotype Vorstellungen den Zugang zu Diagnose und Behandlung blockieren.
Was sind die ersten Anzeichen für eine Essstörung?
Wenn das Essen eine Funktion bekommt – übrigens wie bei jedem anderen Suchtmittel auch. Wenn ich esse oder die Kontrolle darüber nutze, weil ich traurig bin, allein oder aus Langeweile. Wenn ich ständig daran denke – oder es heimlich tue. Wenn ich merke: Ich verliere die Kontrolle. Oder ich brauche sie unbedingt. Einfach gesagt: Wenn du etwas bemerkst, das für dich nicht stimmig ist – informiere dich, such dir Hilfe und rede darüber.
In diesem Jahr „outeten“ sich mehrere bekannte Namen aus der Community: Popsänger Olly Alexander, Ex-Olympionike Tom Daley oder auch Athlet Jack Woolley erklärten, unter Essstörungen zu leiden. Helfen solche Bekundungen?
Ja – solche Outings helfen. Sie zeigen: Essstörungen haben kein Gesicht. Keine Schublade. Kein Geschlecht. Wenn Leute wie Tom Daley oder Olly Alexander darüber sprechen, bricht das Klischees auf – und macht Mut. Wichtig ist aber auch, dass es Räume für Menschen gibt, die keine Bühne haben. Dafür ist Selbsthilfe da. Denn Essstörung ist eine Krankheit. Du kannst nichts dafür – und sie sucht sich dich nicht nach Status aus. Aber du kannst selbst etwas tun. Und wenn Vorbilder genau das zeigen, finde ich das richtig stark.
Wenn ich als Angehöriger merke, dass mein Gegenüber möglicherweise eine Essstörung hat – wie gehe ich damit um?
Wenn du dieser Person nahe stehst, findest du sicher die richtigen Worte, um einfühlsam einfach mal deine Sorge zu äußern. Zum Beispiel: „Wie geht es dir?“ Oder: „Ich habe gemerkt, dass du in letzter Zeit viel zugenommen hast – und du wirkst irgendwie unglücklich damit.“ Oder bei starkem Gewichtsverlust: „Ich habe gesehen, du isst kaum noch. Machst du dir Gedanken über dein Essverhalten?“ Wichtig ist, das Thema anzusprechen, offen und mitfühlend – und der Person Raum zu geben, sich zu öffnen.
Mit eurer Essstörungsgruppe bietet ihr Hilfe in einer unterstützenden Gemeinschaft an. Mit welchen Ängsten kommen neue queere Gruppenmitglieder zu euch?
Viele haben Angst, nicht „krank genug“ zu sein, oder „zu krank“ zu sein. Einige schämen sich vielleicht sogar vor sich selbst. Aber alle sind bei sich zu Hause in einem sicheren Raum – und haben so den Mut, sich zu öffnen. Jede*r Teilnehmende, der*die den Mut gefunden hat, die eigene Geschichte mit der Gruppe zu teilen, hat bisher die Erfahrung gemacht, dass das „Nicht-mehr-allein-Sein“ enorm befreiend und stärkend sein kann.
Ein Kernziel eurer Gruppe ist es auch, zu unterstützen, lebensbejahend zu sein und trotz aller Probleme Lust aufs Leben zu machen – wie kann das gelingen?
Eine lebensbejahende Haltung ist bei uns Voraussetzung. Wir treffen uns alle zwei Wochen online, aber auch darüber hinaus – manchmal auch in Präsenz. Wir haben festgestellt, dass gerade das reale Zusammensein ein wichtiger Baustein ist. Wir kochen zum Beispiel ab und zu gemeinsam. Wir selbst sind oft überrascht, was unsere Gemeinschaft bewirken kann. Wir lachen zusammen und weinen zusammen. Auch wenn wir „nur“ am Computer, Handy oder Tablet sitzen – wir sind uns so nah, wie ich es in 17 Jahren Selbsthilfeerfahrung noch nie erlebt habe. Und wir finden gemeinsam immer wieder Lust am Leben.
Was möchtest du queeren Menschen mit Essstörungen mit auf den Weg geben?
Wenn du bemerkst, dass mit deinem Essverhalten etwas nicht stimmt und du dich nicht wohlfühlst – such dir Hilfe. Um Hilfe zu bitten, ist das Mutigste und Klügste, was du tun kannst. Danach geht Vieles wie von allein weiter – und wird besser. Du bist nicht schwach, wenn du Hilfe suchst – du bist stark. Und du bist schlau.
Mathias, vielen lieben Dank für das Gespräch.
Du brauchst Hilfe? E-Mail direkt an: eats@shalk.de